Über selbstverwaltete Betriebe

Kollektiver Geist auch 50 Jahre nach der Studentenbewegung

Selbstverwaltete Betriebe stellen wir heute in unserem Magazin „Wirtschaft im Profil“ vor.

14.12.2018

Von Matthias Reichert

Ende der 1970er blühten in der Alternativbewegung der westlichen Länder derartige Kollektive auf. Ob das in Reutlingen gegründete Fahrradgeschäft Transvelo, die Echaz-Schreinerei, die Zimmerei Syndikat oder die Siebdrucker von Graffiti: Sie alle sind im Gefolge der Studentenbewegung entstanden, teils wurden sie von ehemaligen Reutlinger PH-Studierenden gegründet.

Praktisch in allen diesen Betrieben steht inzwischen der Generationenwechsel an – und zugleich die Anpassung an einen deutlich veränderten Markt und unterschiedliches gesellschaftliches Klima. Nicht alle selbstverwalteten Betriebe haben diesen Drahtseilakt überlebt. So hat in Reutlingen Anfang 2002 die Jakob-Fetzer-Buchhandlung für immer geschlossen.

Deren Geschichte hatte 1979 begonnen, als ehemalige PH-Studenten wie Peter Reifsteck, Frieder Wieland, Andrejs Gramatins und Thomas Hagenauer in der Rokenstraße einen Buchladen aufmachten und ihn nach dem aufklärerisch-republikanischen Reutlinger Bürgermeister Johann Jakob Fetzer benannten. Mit dem Umzug in die Weingärtnerstraße und mit den Jahren wurden aus den Studierenden gelernte Buchhändler, gutbürgerliches Publikum kam hinzu – aber der politische Anspruch blieb,

Größen wie Erich Fried, Günter Wallraff, Gerhard Polt, Peter Bichsel, Klaus Wagenbach, Klaus Theweleit, Sten Nadolny haben seinerzeit dort gelesen. Doch schließlich musste die Buchhandlung aufgeben, wie auch Kocher, Kolibri und andere. Bis dahin stand Fetzer für den „aufrechten Gang in einer verknöcherten Stadt, der Laden wurde zur Anlaufstelle des anderen Reutlingen, neben Belletristik fand sich hier alles, was kritische Theorie und linke Politik hergaben“, schrieb TAGBLATT-Redakteur Wolfgang Alber 2002 über den Abschied von einer Institution.

Ein zweiter ursprünglich selbstverwalteter Reutlinger Betrieb hat sich zwar gehalten, aber sein Geschäftsmodell grundlegend verändert. Wie vor einiger Zeit berichtet, ist Alan Anfang der 1980er-Jahre aus dem Metzinger Selbsthilfeverein „Alternative Ansätze“ (für Arbeitslose) entstanden. 10 Gründungsmitglieder eröffneten den selbstverwalteten Betrieb für Entrümpelung und Gebrauchtmöbel in Neckartenzlingen, nach etwa einem Jahr zog Alan nach Reutlingen.

Zu Beginn funktionierte das als Kollektiv ohne Chef: Jede/r konnte alles, alle Arbeiten wurden rotierend verrichtet. Alte Möbel aus Entrümpelungen wurden verkauft oder restauriert. Daraus sind inzwischen drei eigenständige Firmen geworden: eine Umzugsfirma, ein Betrieb für Gebrauchtmöbel und eine ökologische Schreinerei. Aber die legendären lila Lastwagen für Umzüge künden bis heute im Stadtbild vom Geist der 68er. Merke: Nur wer sich verändert, kann seinen Wurzeln treu bleiben.

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Erstellt:
14.12.2018, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 08sec
zuletzt aktualisiert: 14.12.2018, 01:00 Uhr

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