Bildung

Zurück an die Schule: Klausurenstress statt Knutschen

Sinkende Inzidenzen ermöglichen Schulen eine weitgehende Rückkehr zum Präsenzbetrieb. Viele Schüler stehen erstmal vor einer Welle schriftlicher Leistungskontrollen.

04.06.2021

Von Axel Habermehl

Nicht nur die Abschlussklassen, wie hier Schüler bei einer Abiturprüfung in Hannover, müssen zu Klausuren antreten. Foto: Julian Stratenschulte/dpa

Nicht nur die Abschlussklassen, wie hier Schüler bei einer Abiturprüfung in Hannover, müssen zu Klausuren antreten. Foto: Julian Stratenschulte/dpa

Montag: Ethik, Mittwoch: Englisch, Freitag: Biologie. Die Rückkehr an ihre Schule nach einem halben Jahr Fernunterricht beginnt für Diana Nezamabadi (16) mit drei Klausuren in der ersten Woche. In der zweiten Woche nach den Pfingstferien stehen Arbeiten in Geschichte und Physik an, in der dritten Spanisch, Chemie und Informatik. „Alles muss nachgeholt werden“, sagt die Elftklässlerin der Friedrich-List-Schule in Ulm. „Wir waren natürlich geschockt, als wir diesen Plan bekommen haben“, sagt sie über sich und ihre Mitschüler. Aber von Lehrer-Seite habe es geheißen: Wir brauchen Noten.

In Baden-Württemberg enden mit dieser Woche nicht nur die Pfingstferien, sondern für viele Kinder und Jugendliche teils lange Zeiten schulischer Abstinenz. Sinkende Sieben-Tage-Inzidenzen in etlichen Kreisen ermöglichen Öffnungen und die Rückkehr aus Fern- und Wechselunterricht in den Präsenzbetrieb. „Ein bisschen Normalität“, wie es Kultusministerin Theresa Schopper (Grüne) nennt, steht für die acht Wochen des restlichen Schuljahres in Aussicht. Und zur Normalität an Schulen gehören „Leistungsfeststellungen“.

In der Corona-Pandemie, wegen der Schüler teils seit Dezember aus den Schulen ausgesperrt waren, zuhause lernen sollten und Fernunterricht unterschiedlicher Art und Qualität bekamen, ruft diese Form der Leistungskontrolle Widerstand hervor. Verärgerung dringt aus Schüler- und Elterngremien. Auch an unsere Redaktion wandten sich Betroffene, die sich gegen die „Klausurenflut“ aussprechen.

In einer Umfrage des Landeselternbeirats (LEB) unter Eltern von Schulkindern im April votierten 39 Prozent gegen benotete Leistungsfeststellungen, 30 Prozent dafür. 24 Prozent fanden, sie sollten stattfinden, aber unbenotet.

„Die Kinder brauchen jetzt vieles, aber keinen Leistungsstress durch Klausuren“, findet der LEB-Vorsitzende Michael Mittelstaedt. Aus seiner Sicht gehe es darum, vom Schulbetrieb entwöhnte, teils emotional oder psychisch angegriffene Schüler wieder an die Schule heranzuführen. Nähe müsse hergestellt, Klassengemeinschaften müssten reaktiviert werden. „Jetzt so einen Stress zu verursachen und Stoff aus dem Fernunterricht abzuprüfen, ist das Allerletzte!“

Beim Neustart „den emotionalen Aspekt nicht vernachlässigen“, findet Kultusministerin Theresa Schopper. Foto: Marijan Murat/Pool/afp

Beim Neustart „den emotionalen Aspekt nicht vernachlässigen“, findet Kultusministerin Theresa Schopper. Foto: Marijan Murat/Pool/afp

Auch Schopper findet, man dürfe „den emotionalen Aspekt nicht vernachlässigen“, sagte sie jüngst im Interview mit dieser Zeitung. „Wir wollen, dass Ausflüge und Sport wieder möglich sind. Dass Schüler zusammen in der Schule hocken, ratschen, Gemeinschaft und Nähe erleben?– das ist wichtig.“ Der Schwäbischen Zeitung sagte sie: „Es ist wichtig, dass sie auch mal wieder Party machen und rumknutschen können.“

Das Ministerium hat für dieses Halbjahr die Klausuren-Mindestanzahl reduziert. In Nebenfächern müssen keine Arbeiten geschrieben werden, in Hauptfächern nur eine. Auch besteht der „Klausurenstau“ nicht überall. Viele Klassen wurden aus dem Fernunterricht für Klausuren in Schulen beordert.

Doch nicht alle Lehrer machten davon Gebrauch. Wer jetzt noch Noten braucht, holt die Arbeiten eben nach. Da Korrekturen Zeit brauchen und Zeugniskonferenzen in Sichtweite sind, verliert mancher Lehrer lieber keine Zeit.

Auch wenn die Klausuren-Mindestanzahl gesenkt wurde, kann jeder Lehrer welche ansetzen. „Das entscheiden die einzelnen Kollegen“, sagt Andrejs Petrowski, geschäftsführender Schulleiter der Tübinger Gymnasien. Viele Lehrer hätten auch im Fernunterricht Noten gemacht. Doch manche Fächer eigneten sich dazu weniger. Einen „Klausurenstau“ sehe er an seiner Schule, dem Uhland-Gymnasium, nicht, aber natürlich würden Arbeiten geschrieben und das habe auch seine Berechtigung, um fair und sicher zu bewerten. „Eine Pi-mal-Daumen-Notengebung würde zu berechtigtem Unmut führen.“

Es gehe nicht nur um Noten, sondern um die Ermittlung von Lernständen. „Wir müssen wissen, wo einzelne Schüler stehen.“

Das sehen auch Eltern so. „Es müssen ja Leistungsfeststellungen gemacht werden, um zu erheben, was die Kinder können“, sagt Thorsten Papendick, Vorsitzender des Gesamtelternbeirats Mannheim. Schließlich müssten die geplanten Hilfsprogramme passgenau gestaltet werden. Von Beschwerden wegen Klausuren habe er bisher nichts gehört.

Diana Nezamabadi, die Gymnasiastin aus Ulm, sieht trotz der Tatsache, dass sie in den Ferien viel lernen musste, einen Punkt, der für Klausuren spricht: „Letztes Jahr wurden viele Klausuren ganz abgesagt. Dann haben viele zu wenig gelernt und sind jetzt total überfordert, weil ihnen Grundlagen fehlen.“ Ihr Umgang mit acht Klausuren in den ersten drei Wochen: „Wir ziehen das jetzt einfach durch.“

Vorgaben und Rechtslage

Laut Kultusministerium können in Baden-Württemberg schriftliche Leistungsfeststellungen an weiterführenden Schulen, beruflichen Schulen und Sonderpädagogischen Schulen trotz Schulschließungen stattfinden, wenn diese zur Bildung der Halbjahres- oder Kursnote notwendig sind „und ansonsten nach Einschätzung der Lehrkraft eine faire Notenbildung nicht möglich wäre oder diese Klassenarbeit oder Klausur zur Erfüllung der reduzierten Mindestanzahl erforderlich ist“.

Schon im Januar hatte das Kultusministerium entschieden, dass diese Mindestanzahl wegen Corona unterschritten werden kann. Die eigentliche Mindestanzahl ist in einer Verordnung des Kultusministeriums über die Notenbildung geregelt. - hab