Tübingen · Gäste der Woche

Kinder mit Delirium: Eine ruhige Hand für Ausnahmesituationen

Auf der Intensivstation der Tübinger Kinderklinik arbeiten sie Hand in Hand. Die Ärztin Dr. Juliane Engel und die Heilerziehungspflegerin Andrea Koch betreuen Kinder mit Delirium.

10.12.2022

Von Christiane Hoyer

Sie suchen nach individuellen Lösungen für jede Familie eines schwerkranken Kinds (von links): Andrea Koch und Dr. Juliane Engel.Bild: Anne Faden

Sie suchen nach individuellen Lösungen für jede Familie eines schwerkranken Kinds (von links): Andrea Koch und Dr. Juliane Engel.Bild: Anne Faden

In der Kinderklinik liegen Säuglinge, Kleinkinder, aber auch Schüler zwischen 6 und 18 Jahren auf der Intensivstation. Die meisten kleinen Patientinnen und Patienten aber sind unter einem Jahr alt. Sie kommen mit angeborenem Herzfehler auf die Welt, haben Fehlbildungen, ihre Organe müssen transplantiert werden oder sie haben bösartige Tumore. Oft liegen sie wochenlang auf der Intensivstation,
müssen mehrere Operationen überstehen. Manche verkraften diese Operationen und die vielen Medikamente sehr schlecht. Sie werden apathisch, desorientiert oder hyperaktiv – typische Anzeichen für ein Delirium. Bloß: Wie lässt sich dieses erkennen und behandeln?

Juliane Engel arbeitet in einer Arbeitsgruppe, die das Auftreten von Delir-Zuständen bei Kindern wissenschaftlich untersucht. Welches sind die Auslöser für ein Intensiv-Delir, wie kann man diese Auslöser reduzieren, und welche Therapieansätze gibt es? Diese Fragen müssen evaluiert werden, um daraus Schlüsse für die Klinik-
arbeit ziehen zu können. Bis jetzt, so Engel, ist die spezielle Betreuung von Delir-Kindern auf Spenden angewiesen. Sie hofft, dass es bald eine Standardversorgung für diese Kinder gibt.

Dazu zählt für sie neben der regelmäßigen Untersuchung, ob ein Delir vorliegt, vor allem die Zusammenarbeit mit Psychologen, Physiotherapeuten, Krankenpflegerinnen – und mit Heilerziehungspflegerinnen.

Kochs Stelle und die ihrer Kollegin (jeweils 70 Prozent) werden bislang von der Stiftung „Hilfe für kranke Kinder“ finanziert. Koch hat sich auf die Stelle beworben, nachdem sie knapp fünf Jahre beim Verein „Arche Intensivkinder“ gearbeitet hatte. „Sonst hätte ich mich nicht getraut“, sagt sie und lacht. Doch sie fand es „spannend“, beim Projekt Intensiv-Delir mitzuarbeiten, weil die Arbeit am Kind mit der Wissenschaft einhergeht und vom Team gleichrangig bewertet wird. Im September 2020 hat sie auf der Kinderintensivstation angefangen.

Koch kann sich „sehr gut in die Eltern einfühlen“. In dem hektischen Alltag auf Intensiv mit all den Schläuchen an ihrem Kind, den piepsenden Geräten und den Fachkräften in Blau und Weiß fühlen sich die Eltern des kranken Kindes oft verloren, wissen nicht, wie sie mit ihrem Kind umgehen sollen, das plötzlich so verändert ist. Andrea Koch hilft ihnen dabei, erklärt ihnen, was ein Delir ist, wie sie es erkennen können, und macht ihnen Mut. Ganz oft, so Koch, „sage ich den Eltern, nachdem sie stundenlang am Bett ihres Kindes gesessen sind: Sie dürfen jetzt auch mal Pause machen, ich kümmere mich.“ Andrea Koch ist dann oft „die gute Zwischenlösung“, wie sie sagt.

Sie nimmt die Kinder auf den Arm, kuschelt mit ihnen, trägt sie herum, beruhigt sie, massiert den Körper oder regt auch andere Sinnesreize an. Das können Musikinstrumente sein oder auch angenehme Gerüche. Für ein älteres Kind, das schon so lange intensivmedizinisch behandelt werden musste, „habe ich mal sein Lieblingsessen bestellt: eine Pizza“.

Andrea Koch sorgt dafür, dass sich die Familien „nicht vom Krankenhaussetting erdrücken lassen“, dass sie „an schöne Zeiten mit ihrem Kind anknüpfen können“. Hauptproblem beim Delir, so Engel, sei, dass man die Anzeichen oft nicht erkennt und falsch behandelt. Ein Ansatzpunkt für Kinder im Delir: weniger Medikamente geben, vor allem weniger Beruhigungs- und Schlafmittel. „Wir wollen wache Kinder haben“, sagt Koch. Und so manches Mal begleitet sie ihre Kinder auch, wenn zum Beispiel eine Ultraschall-Untersuchung ansteht und diese eine „beruhigende Hand“ brauchen.

Und dann gibt es Kinder, die haben nicht immer ihre Eltern bei sich, weil diese arbeiten müssen und weiter weg wohnen. „Es gibt Schicksale, die gehen einem extrem nahe“, sagt Koch. „Das kann ich nach Feierabend nicht einfach abhaken.“ Sie musste für sich einen Weg finden, Distanz zu schaffen. Auch Juliane Engel fiel das zunächst schwer. „Anfangs habe ich immer eine Topfpflanze gekauft, wenn ein Kind gestorben ist und der Pflanze einen Namen gegeben“, erzählt sie. Aber das habe ihr nicht gut getan.

Sie freut sich jetzt jedes Mal, wenn sich ein Kind nach der Intensivbehandlung gut erholt hat und auf Station klingelt, um sich zu verabschieden und zu bedanken. „Unser Team versucht, das Beste für das Kind möglich zu machen“, sagt die Ärztin.

Juliane Engel hat bereits während ihres Medizinstudiums in Österreich und Portugal gemerkt, dass sie gerne mit Kindern arbeitet. Nach ihrem Studienabschluss und der Approbation hat sie knapp zwei Jahre lang beim Forschungsprojekt am Boston Children’s Hospital in Massachusetts mitgearbeitet, das die künstliche Ernährung bei Kindern mit schweren Leberschäden untersucht hat. In Greifswald hat sie
in der Pädiatrie gearbeitet und auf der Intensivstation gemerkt: „Das ist genau das, was ich machen möchte.“

Seit Januar 2018 arbeitet Engel am UKT in der interdisziplinären pädiatrischen Intensivmedizin. Seit 2021 leitet sie das Projekt „pädiatrisch interprofessionell modifizierte ABCDEF-Bundles“. Im Ansatz geht es um die Intensivmedizin, die sich auf die Familien konzentriert. Und bei diesen Bundles hat die Heilerziehungspflegerin Andrea Koch eine wichtige Funktion. Sie betreut das Delirmanagement („D“) und die Familien (F). Die Buchstaben A, B und C stehen für Atmen, künstliche Beatmung und Sedierung. Das Projekt, so Engel, solle mit seinen Maßnahmen langfristig gesehen die Intensivmedizin bei Kindern verändern.

Denn die Behandlung auf der Intensivstation hat für die Kinder Folgen, die sich bei einer anderen Betreuung in der Klinik vermeiden ließen, so Engel. Viele haben Entwicklungsverzögerungen, lernen später laufen und sprechen, sind oft psychisch und sozial labil. Umso wichtiger ist für die Kinder ein stabiles Familiengefüge. Und diese Folgen, so Engel, „sind schwer zu behandeln, wenn sie erst einmal aufgetreten sind.“ So wollen alle im Team daran arbeiten, dass der Aufenthalt auf der Intensivstation verbessert wird. Und das kostet Personal und Zeit – Zeit, die den Pflegekräften im Alltag fehlt. Koch konnte jetzt ihren Stellenanteil bei den Delir-Kindern um 25 Prozent aufstocken, die TAGBLATT-Weihnachtsspende hilft, um diese Betreuungszeit zu finanzieren. Eine aktuelle Förderzusage vom Bund stellt jetzt auch die wissenschaftliche Begleitung auf stabile Füße, freuen sich Engel und Koch.

Kinder mit Delirium: Eine ruhige Hand für Ausnahmesituationen

Dr. Juliane Engel

1984 in München geboren und aufgewachsen

2003 Abitur in München

2006-2012 Medizinstudium in Wien und Portugal (Diplom)

2013 Approbation

2012-2014 Projektarbeit mit Teamleitung am Boston Children‘s Hospital in Massachusetts, Schwerpunkt Neonatologie, Kinderchirurgie

2014-2017 Ärztin in Weiterbildung Pädiatrie an der Unikinderklinik Greifswald

Oktober 2022 Promotion an der Uni Tübingen

seit Januar 2018 Ärztin in Weiterbildung Pädiatrie und pädiatrische Intensivmedizin an der Unikinderklinik Tübingen

Andrea Koch

1982 in Memmingen geboren, aufgewachsen in Erolzheim

1999 Schulabschluss Mittlere Reife

1999-2000 Vorpraktikum zur Heilerziehungspflegerin in der St. Elisabeth-Stiftung

2000-2003 Ausbildung zur staatlich anerkannten Heilerziehungspflegerin

2007-2010 Ordensausbildung zur Vinzentinerin im Kloster Untermarchtal

2000-2007 Arbeit in der St. Elisabeth-Stiftung (Offene Hilfen)

2010-2015 Arbeit bei der Vinzenz von Paul Hospital gGmbH

2015-2020 Arbeit beim Verein Arche Intensivkinder in Kusterdingen

Seit September 2020 Arbeit auf der Kinderintensivstation mit Schwerpunkt Delir

Kinder im Delirium und die Tafel brauchen Hilfe

Spenden können Sie auf das TAGBLATT-Konto bei der Kreissparkasse Tübingen (IBAN: DE94 6415 0020 0000 1711 11). Vermerken Sie, wenn Sie eine Spendenquittung benötigen, und fügen in diesem Fall Ihre vollständige Adresse hinzu. Bei Beträgen bis 300 Euro akzeptiert das Finanzamt einen Kontoauszug. Wollen Sie ein bestimmtes Projekt unterstützen (Projekt 1 „Kinder im Intensiv-Delir“ oder Projekt 2 „Tafel“), bitten wir um einen entsprechenden Vermerk. Gemäß Art. 13 DSGVO sind wir verpflichtet, darauf hinzuweisen, dass wir Name, Adresse und Spendenbetrag der Leser und Leserinnen, die eine Spendenbescheinigung wünschen, an die begünstigten Organisationen übermitteln.

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Erstellt:
10.12.2022, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 4min 44sec
zuletzt aktualisiert: 10.12.2022, 01:00 Uhr

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