Sondierungen

Kettensägen-Sound als Klingelton

Die SPD gilt den Grünen als Lieblingspartner. Inhaltlich ist man sich nah – doch die gemeinsame Regierungszeit bis 2016 haben nicht alle Beteiligten in nur guter Erinnerung.

25.03.2021

Von ROLAND MUSCHEL, JENS SCHMITZ

Koalitionspartner auf Wiedervorlage? Winfried Kretschmann (links) im Gespräch mit SPD-Chef Andreas Stoch (rechts) und Generalsekretär Sascha Binder. Foto: Marijan Murat/dpa

Koalitionspartner auf Wiedervorlage? Winfried Kretschmann (links) im Gespräch mit SPD-Chef Andreas Stoch (rechts) und Generalsekretär Sascha Binder. Foto: Marijan Murat/dpa

Stuttgart. Als am Ende des Wahlabends feststand, dass eine grün-rote Mehrheit um einen Sitz verfehlt wurde, war die Enttäuschung bei Politikern beider Parteien groß. Den Frust bekam nicht zuletzt die Klimaliste zu spüren, die in den sozialen Medien als Sündenbock herhalten musste: Wäre die neue Partei, die 0,9 Prozent erzielte, nicht bei der Landtagswahl angetreten, so der Vorhalt, hätte es für eine Neuauflage für Grün-Rot gereicht. So müssten die Grünen entweder mit der CDU oder in einer Ampel mit der FDP in der Klimapolitik unliebsame Kompromisse eingehen, während man mit Grün-Rot voll hätte durchstarten können. Die Klimaliste habe also dem Klimaschutz mehr geschadet als genutzt.

Der Traum von Grün-Rot

Die Kritik hat indes zwei Schwachpunkte. Erstens ist sehr die Frage, ob alle, die für die Klimaliste gestimmt haben, bei deren Verzicht, zur Wahl anzutreten, automatisch Grüne oder SPD gewählt hätten – oder eher Alternativen wie etwa die Linke oder die ÖDP. Womöglich wären sie auch einfach zuhause geblieben.

Zweitens gilt es als relativ unsicher, ob Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) auf eine Regierung mit einer hauchdünnen Mehrheit von nur einer Stimme gebaut hätte. Schon die Drei-Stimmen-Mehrheit, die die von 2011 bis 2016 amtierende grün-rote Regierung hatte, hatte immer wieder Probleme bereitet. So musste der jetzige Grünen-Fraktionschef Andreas Schwarz 2012 wegen einer wichtigen Abstimmung direkt von der Geburt seiner Tochter aus dem Kreißsaal in den Landtag eilen. Andere Abgeordnete wurden aus dem gleichen Grund des Öfteren bekniet, trotz Erkrankungen zu Plenarsitzungen zu kommen. Auf diesen Stress dürfe Kretschmann getrost verzichten können.

So beweist die harsche Kritik an der jungen Klimaliste und die Enttäuschung am Wahlabend über die knapp verpasste grün-rote Mehrheit vor allem, wie nahe sich beide Parteien inhaltlich stehen und wie gerne man wieder, ungestört durch die FDP, zusammen regiert hätte.

Dabei zeigt der Blick zurück, dass die gemeinsame Vergangenheit durchaus konfliktreich war; es gibt sogar einflussreiche Grüne, die sagen, die Koalition mit der SPD sei auch nicht einfacher zu managen gewesen als die mit der CDU. Den Beginn überschatteten die gegensätzlichen Positionen zu Stuttgart 21. Der Streit wurde nach dem Volksentscheid zwar formal zu den Akten gelegt, hallte atmosphärisch aber nach. Am Abend des für die S-21-Befürworter erfolgreichen Volksentscheids tanzte der damalige SPD-Fraktionschef Claus Schmiedel im Stuttgarter Ratskeller auf dem Tisch, angefeuert von CDU-Granden wie der früheren Verkehrsministerin Tanja Gönner, während der grüne Koalitionspartner mit der Niederlage haderte. Grüne Abgeordnete erinnern sich mit Groll in der Stimme, dass sich ein SPD-Abgeordneter aus der S-21-Fan-Kurve das Geräusch einer Kettensäge als Handy-Klingelton heruntergeladen hatte, als es ums Fällen von Bäumen für den Bahnhofsbau ging. Legende sind auch Schmiedels unabgestimmte Vorstöße, mit denen er regelmäßig Kretschmanns Regierungszentrale in Wallung brachte. Mal ging es ums neunjährige Gymnasium, mal um den Bau neuer Straßen, immer aber um Geländegewinne auf dem Terrain öffentlicher Wahrnehmung. Die Partner waren fast gleich stark, die Grünen hatten 24,2 Prozent, die SPD 23,1 Prozent erhalten. Das Ziel der SPD war es, die Verhältnisse umzukehren, das der Grünen, dies zu verhindern. So waren die Konflikte, jenseits von S21, eher machtpolitisch motiviert als inhaltlich.

Die Kräfteverhältnisse sind mittlerweile klar austariert, inhaltlich gibt es kaum Differenzen. Gesprächsbedarf gibt es am ehesten bei Grundsatzfragen, Bildung und Inneres.

Beide Parteien unterstreichen die Bedeutung von Klimaschutz , Ökonomie und Sozialverträglichkeit. Getreu ihrem Markenkern betonen die Grünen die Ökologie an vorderster Front, die SPD das Soziale. Die Grünen wollen alle finanzpolitischen Entscheidungen auf ihre Vereinbarkeit mit dem 1,5-Grad-Ziel und dem Artenschutz prüfen. Die SPD nennt als haushaltspolitische Prioritäten Bildung und Weiterbildung, bezahlbaren Wohnraum und Mobilität sowie ein stabiles Gesundheitssystem, aber auch die Energiewende. In finanziell klammen Zeiten werden sich also Gewichtungsfragen ergeben, aber kaum unüberbrückbare Gegensätze.

Im Bildungsbereich will die SPD Kita-Gebühren abschaffen, die Grünen treten für eine landesweite Staffelung nach dem Familieneinkommen ein. Eine komplette Gebührenfreiheit sei langfristig zwar erstrebenswert, aber derzeit nicht machbar.

Schließlich die Innenpolitik: Da will die SPD die Reformen des Polizeigesetzes aus den Jahren 2016 und 2017 rückgängig machen, weil sie unter anderem den Sicherheitskräften nicht genug Rechtssicherheit böten. Die Grünen haben diese Reformen mitgetragen. Allerdings teilweise zähneknirschend: Die Novellen gingen auf das Betreiben des bislang CDU-geführten Innenministeriums zurück. Die Ökopartei dürfte hier durchaus kompromissbereit sein, zumal die FDP ihren Wählern versprochen hat, sie werde „die Bürgerrechte konsequent verteidigen und daher keinen verdachtsunabhängigen und flächendeckend gegen alle Bürger gerichteten Überwachungsmaßnahmen“ zustimmen. Experten hatten bei den Reformen in diesen Bereichen Mängel kritisiert.

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Erstellt:
25.03.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 21sec
zuletzt aktualisiert: 25.03.2021, 06:00 Uhr

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