Unwort des Jahres

Jury kritisiert Boris Palmers Sprache – Tübingens OB wehrt sich

Sprachwissenschaftler rügten bei der Wahl zum „Unwort des Jahres“ den Begriff „Menschenrechtsfundamentalismus“. Tübingens OB Boris Palmer weist den Vorwurf zurück.

15.01.2019

Von Gernot Stegert

Die Jury für das „Unwort des Jahres“ hat Boris Palmer für seinen Sprachgebrauch kritisiert. Sie hat „Menschenrechtsfundamentalismus“ zum zweiten „Unwort des Jahres“ nach „Anti-Abschiebe-Industrie“ des CSU-Politikers Alexander Dobrindt gekürt. Palmer hatte am 15. Juli 2018 (wir berichteten) auf Facebook einen Kommentar zu einem Pro und Contra der Wochenzeitung „Zeit“ zur Seenotrettung mit dem Satz überschrieben „,Menschenrechtsfundamentalismus‘ bringt die Rechtsextremen an die Regierungen in Europa.“

Das Bündnis Bleiberecht Tübingen griff im Sommer 2018 eine Idee des TAGBLATTS zu dem von Boris Palmer benutzten Begriff Menschenrechtsfundamentalismus auf und ließ eine T-Shirt-Serie anfertigen: shop.spreadshirt.de/bleiberecht. Archivbild: Gernot Stegert

Das Bündnis Bleiberecht Tübingen griff im Sommer 2018 eine Idee des TAGBLATTS zu dem von Boris Palmer benutzten Begriff Menschenrechtsfundamentalismus auf und ließ eine T-Shirt-Serie anfertigen: shop.spreadshirt.de/bleiberecht. Archivbild: Gernot Stegert

Die sechs Sprachwissenschaftler und Autoren der Jury begründen ihre Wahl laut Pressemitteilung so: „Dieser zynische Ausdruck wurde von Boris Palmer, Oberbürgermeister von Tübingen und Grünen-Politiker, anlässlich einer Debatte um die Seenotrettung von Flüchtlingen aus dem Mittelmeer verwendet, um damit die politische Haltung von ihm sogenannter ,moralisierender Kreuzzügler‘ in der Flüchtlingspolitik zu kritisieren. Der Ausdruck zeigt in erschreckender Weise (ähnlich wie eine dazu in den Medien geführte Pro- und Contra-Debatte), dass es in Deutschland diskutabel geworden zu sein scheint, ob ertrinkende Menschen gerettet werden sollen oder nicht. Menschenrechte sind fundamentale Rechte – sie zu verteidigen ist mehr als eine bloße Gesinnung, die als ,Fundamentalismus‘ diskreditiert werden könnte.“

Palmer sieht sich falsch verstanden und kritisiert die Jury. Er wirft ihr vor, sie mache „durch Weglassen des Kontextes Politik“. Auf Facebook schreibt er: „Mein Ausdruck ,Menschenrechtsfundamentalismus‘ bezog sich gerade nicht auf die Frage, ob man Menschen in Seenot retten muss, wie die Jury insinuiert. Das steht völlig außer Frage. Ich habe den Begriff verwendet, um etwas ganz anderes zu kritisieren: Nämlich die Bereitschaft, die Wahl extrem rechter, antieuropäischer Regierungen und in letzter Konsequenz die Zerstörung der EU, der Gewaltenteilung und der Demokratie in europäischen Ländern zu akzeptieren, nur damit jeder Gerettete auch nach Europa gefahren werden kann.“ Palmer weiter: „Dass Menschenrechte fundamental sind, versteht sich von selbst. Fundamentalismus ist trotzdem falsch.“ Es müssten immer die Folgen bedacht werden. Italien war „mit Zehntausenden jungen Männern auf seinen Straßen und Plätzen so überfordert, dass es Salvini wählte“. Die Wahl von Rechtspopulisten verringere die Chancen für Flüchtlinge, sagte Palmer dem TAGBLATT. Wo hätten die Seenotretter die Flüchtlinge hinbringen sollen? Nach Nordafrika, so der Oberbürgermeister.

Palmer zeigte auch Selbstkritik: „Nun sehe ich durchaus ein, dass der Begriff so leicht falsch zu deuten ist, dass es nicht klug war, ihn zu verwenden.“ Er fügte hinzu: „Das legitimiert aber die verzerrende Darstellung in der Pressemitteilung der Jury keinesfalls. Ich finde das hochgradig unseriös.“

Chris Kühn zum Palmer-Unwort

Der Tübinger Bundestagsabgeordneter der Grünen, Chris Kühn kommentiert die Wahl des Begriffs „Menschenrechtsfundamentalismus“ zu einem der Unwörter des Jahres 2018 folgendermaßen:

Kühn zitiert in diesem Zusammenhang die Anfangssätze des Buchs „Wer wir sein können“ des Grünen-Parteivorsitzenden Robert Habeck: „Sprache schafft die Welt. Sie ist nie nur Abbildung von ihr, sondern bringt sie immer auch hervor. Das gilt grundsätzlich. Und das gilt erst recht für die aktuelle politische Debatte in Deutschland.“ Kühn schreibt weiter, das „Unwort des Jahres“ werde seit 1991 verliehen und küre Begriffe, die gegen das Prinzip der Menschenwürde oder gegen Prinzipien der Demokratie verstoßen. In einer Zeit, in der Sprache immer mehr verroht, sei die Wahl der Begriffe „Anti-Abschiebe-Industrie“, „Menschenrechtsfundamentalismus“ und „Ankerzentrum“ zum Unwort des Jahres 2018 ein Lichtblick. Es wäre besser für Boris Palmer, so Kühn, sich dieser Kritik einer renommierten Jury von Sprachwissenschaftlern zu stellen, anstatt sie pauschal als „unwissenschaftlich und ärgerlich“ zurückzuweisen. Kühn empfiehlt seinem Parteifreund Palmer, „es wäre besser, über Sprache und ihre Wirkung nachzudenken, statt einen schnellen Facebookbeitrag rauszuhauen“.

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Erstellt:
15.01.2019, 19:38 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 48sec
zuletzt aktualisiert: 15.01.2019, 19:38 Uhr

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