Tübingen · Solidarität

Jetzt übernehmen die Jüngeren

Sechs Standorte – sechs Mal Tafelladen-Ersatz: Ehrenamtliche der „Initiative Grundversorgung“ verteilen nun Lebensmittel an Bedürftige.

24.03.2020

Von Lisa Maria Sporrer

Vanessa Ball und Benedikt Döllmann bedienen Erich Becker, der für eine ältere Frau im Rollstuhl Lebensmittel abholt. Wie hier in der Lebensmittelausgabe „Goldene Zeiten“ am Europaplatz bekommen Bedürftige an fünf weiteren Standorten Lebensmittel umsonst.Bild: Klaus Franke

Vanessa Ball und Benedikt Döllmann bedienen Erich Becker, der für eine ältere Frau im Rollstuhl Lebensmittel abholt. Wie hier in der Lebensmittelausgabe „Goldene Zeiten“ am Europaplatz bekommen Bedürftige an fünf weiteren Standorten Lebensmittel umsonst.Bild: Klaus Franke

Besonders ältere Menschenengagieren sich in einem Ehrenamt. Das ist der Tafel in Deutschland nun zum Verhängnis geworden. Von über 40 vorübergehenden Standort-Schließungen spricht der Bundesverband mittlerweile. Tübingen zählt auch dazu. Nicht nur die engen Räumlichkeiten veranlassten zu diesem Schritt, teilt die gemeinnützige Hilfsorganisation mit. Über 90 Prozent der 60000 ehrenamtlichen Helfer gehören laut Tafel zu der durch das Coronavirus besonders gefährdeten Gruppe älterer Menschen. Das war auch der Grund, warum die Tübinger Tafel ihre Warenausgabe in der Eisenbahnstraße dichtmachen musste.

Aber es gibt Ersatz: Die „Initiative Grundversorgung“ gibt seit dem gestrigen Dienstag an sechs Stellen in der Stadt kostenlos Lebensmittel aus. „Logistisch ist das zwar ein riesiger Aufwand, die dezentrale Umsetzung ist aber super“, sagt Dorothea Kliche-Behnke. Die SPD-Stadträtin, selber Mitglied der Tafel, hatte die Idee zu einer Alternativ-Versorgung. In kürzester Zeit fanden sich Mitstreiter, weitere Initiatoren, zahlreiche Studenten und Schüler, die helfen wollen. „Wir sind mit einem Pool von gut 60 Menschen gestartet, mittlerweile sind es über 100“, sagt Kliche-Behnke.

Zentral auf dem Europaplatz, mit bester ÖPNV-Anbindung, liegt die Zentrale für die neuen Ausgabestellen. Dort, in der Parkgaststätte „Goldene Zeiten“ werden nun frühmorgens die Waren angeliefert, verteilt, sortiert und anschließend zu den weiteren fünf Standorten gebracht. „Was übrigbleibt, kann hier auch im Kühlraum gelagert werden“, sagt die Inhaberin und Grünen-Stadträtin Asli Kücük.

Das Verteiler-Prinzip funktioniert ähnlich wie bei der Tafel. Morgens fahren Mitarbeiter die Supermärkte ab, laden Kisten voll mit Lebensmitteln in ihre Autos und bringen sie zu der seit einiger Zeit geschlossenen Bar vorm Bahnhof. Die ehrenamtlichen Helfer sind in vier Schichten eingeteilt: vom Abholen und Sortieren über die Ausgabe bis hin zum Putzdienst. „Es ist schon toll, wieviele Leute da mitmachen, die gesagt haben, wir sind jung, wir können das machen“, sagt Kücük.

Eine dieser jungen Helferinnen ist Hannah Staufenberg, Geoökologie-Studentin. Während sie Bananenkartons voller Obst, Gemüse und Backwaren aus dem Auto lädt, erzählt sie, dass sie von der Aktion über soziale Medien erfahren hat. „Man muss ja was machen. Ich wollte einfach nur helfen. Und da ich ohnehin gerade keine Uni habe und sonst nichts machen kann, habe ich auch viel Zeit.“ Ähnlich geht es der 29-jährigen Vanessa Ball, die zusammen mit dem 14-jährigen Schüler Benedikt Döllmann am Dienstag in den „Goldenen Zeiten“ Lebensmittel verteilte. „Wenn ich schon mal die Zeit habe, kann ich auch etwas für andere tun“, sagt Ball. Wie ein kleiner Lebensmittelladen ist die ehemalige Parkgaststätte hergerichtet: Hinter einem Tisch, der als Abstandshalter und Theke fungiert, sind die Kisten mit Lebensmitteln aufgebaut. Die Tüten werden nach Bedarf gepackt, „so, dass deren Inhalt etwa zwei bis drei Mahlzeiten entspricht“, sagt Kücük.

Bei dem, was verteilt werden kann, ist die Initiative Grundversorgung auf das angewiesen, was sie von den Supermärkten bekommt. „Das baut sich vielleicht ja noch auf“, sagt SPD-Stadträtin Ingeborg Höhne-Mack, die den Standort Wanne betreut. Am Dienstag gab es fast ausschließlich Obst und Gemüse zu verteilen. „Aber das ist von Tag zu Tag wohl unterschiedlich“, so Höhne-Mack. Jedenfalls würden sie von so vielen Seiten Hilfe erfahren, sagt Kücük und zählt einige Restaurants auf, die, weil sie schließen mussten, Teile ihres Lagers als Spende abgegeben haben. „Man sieht: Es geht nicht um wir gegen ihr. Die Menschen in Tübingen sind sehr solidarisch“, so Kücük.

Und das kommt bei den Menschen, die auf diese Lebensmittelspenden angewiesen sind, gut an: „Es war eine sehr freundliche Stimmung“, sagt Hannes Juretzka. Der 21-jährige Biochemie-Student kam über die Jusos zu seinem neuen Ehrenamt. In der Kirchengemeinde St. Petrus in Lustnau verteilte er am Dienstag an rund zehn Kunden Lebensmittel. „Es muss erstmal anlaufen. Viele Menschen wissen noch nichts von den Verteilerstellen“, erklärt er die verhaltene Nachfrage.

Das sieht auch Kliche-Behnke so: „Es läuft an. Jetzt muss sich das noch weiter rumsprechen.“ An Helfern gibt es jedenfalls keinen Mangel. Die Stiftskirchengemeinde hat bereits mit dem Gemeindehaus Lamm einen weiteren Standort angeboten.

Öffnungszeiten der Verteilerstandorte

Die folgenden Standorte haben montags bis freitags von 14 bis 17 Uhr geöffnet:

Kinder- und Jugendfarm Derendingen, Saibenstraße 10

Bürgertreff und die Nachbarschaftliche Selbsthilfe (NaSe), Janusz-Korczak-Weg 1

Stadtteiltreff Wanne, Beim Herbstenhof 5

Brückenhaus, Werkstraße 8

Goldene Zeiten, Europaplatz 11

Kirchengemeinde St. Petrus in Lustnau, Pfrondorfer Straße 24

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Erstellt:
24.03.2020, 21:05 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 13sec
zuletzt aktualisiert: 24.03.2020, 21:05 Uhr

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