Von Eseln lernen und die Unbeschwertheit zurückgewinnen

Jesidische und andere Kinder können in Weilheim Tiere streicheln und im Gehege reiten

Drei Kinder sitzen in einem Hof, jedes hat ein bauschiges Küken auf dem Schoß. Ganz vorsichtig umschlingen sie die zarten Tierchen mit den Händen. Eine Szene – ebenso rührend wie schön.

19.05.2018

Von Ulla Steuernagel

Von Maisaa, Sheelan, Christine Donath und Adham lassen sich die Henne und die Zwergseidenküken gerne in die Hand nehmen.Bild: Faden

Von Maisaa, Sheelan, Christine Donath und Adham lassen sich die Henne und die Zwergseidenküken gerne in die Hand nehmen.Bild: Faden

Christine Donath, Besitzerin der Zwergseidenhühner, erklärt den Kindern, dass die Hennen sich „im Schichtbetrieb“ mit dem Brüten und der Erziehung der Küken abwechseln. Sheelan, Maisaa und Adham hören aufmerksam und andächtig zu.

Genau so stellen sich viele Erwachsene eine glückliche Kindheit vor: unbeschwertes Zusammensein mit anderen Kindern, mit Tieren und in der Natur. Nur, so sieht der Alltag heute für die wenigsten Kinder aus – und für Sheelan, Maisaa und Adham erst recht nicht. Die Unbeschwertheit müssen sie sich langsam zurückerobern. Denn die Kinder haben schon vieles erlebt, was Kinder nicht erleben sollten.

Zusammen mit ihren jesidischen Müttern gelang ihnen die Flucht aus ihrer syrischen Heimat, danach lebten sie in irakischen Flüchtlingslagern, und vor drei Jahren kamen sie auf besondere Initiative von Ministerpräsident Winfried Kretschmann nach Baden-Württemberg.

Dreißig jesidische Frauen und Kinder haben in Tübingen Schutz und Unterkunft gefunden, zunächst streng abgeschirmt, weil viele der vom IS verschleppten und versklavten Frauen sich auch in ihrem neuen Zuhause vor der Terrormiliz fürchteten.

Die Tübingerin Edith Ramminger half jesidischen Frauen beim Deutschunterricht. Sie merkte dabei bald, dass ihre Kinder ebenfalls Betreuung und Angebote brauchten. Und sie wusste, dass traumatisierten Kindern der Umgang mit Tieren oft leichter fällt als mit Menschen. Tieren gegenüber lassen sich Gefühle zeigen und lässt sich Vertrauen fassen. Der Umgang hat für Kinder eine therapeutische Wirkung.

Stunden im Streichelzoo

Als Vorsitzende des Vereins Kranke Kinder in der Schule hatte Ramminger schon gute Erfahrungen mit Reitwochen für Kinder gemacht. Doch ein solches Angebot kam in diesem Fall nicht zustande: „Ich habe nach Pferden gesucht, aber in der nahen Umgebung keine gefunden.“ So entstand die Idee, es mit Eseln zu probieren. Eselhalterin und Ergotherapeutin Christine Donath machte mit, und Volksbank, Kreissparkasse, die Stadt Tübingen und Aktion Mensch erklärten sich zur Förderung bereit. Das Programm beschränkt sich nicht nur auf traumatisierte jesidische Kinder, auch Kinder aus der Weilheimer Grundschule kommen hinzu.

Jede Woche verbringen die Kleinen zwei glückliche Stunden auf dem Weilheimer Hof und mit „ihren“ Tieren. Der Ablauf ist immer ähnlich, erst bleiben sie eine Zeitlang im „Streichelzoo“ hinterm Haus in der Wilonstraße, danach geht es zu den Eseln.

Maisaa macht mit ihren sieben Jahren einen selbstbewussten Eindruck. Sie ist stolz, dass sie schreiben kann. „Esel“ malt sie aufs Papier, spielen will sie aber gerade lieber mit den Tieren am Haus. Der achtjährige Adham hält schon den großen Mischlingshund Figo an der Leine und möchte unbedingt zum Eselsgehege. Die Satteldecken für die Esel werden in einen kleinen Handwagen gepackt und auf dem Weg zum Gehege noch ein paar Zweige abgeschnitten. Kaum sehen die Kinder die sechs Esel, sind die auch schon die wichtigsten und liebsten Viecher. Die Drei bürsten den imposanten Großesel Choucroute und die kleinere Cleo. „Nicht klopfen, immer nur streicheln“, leitet Donath die Helfer an. Sie erinnert sie auch an die Regeln im Gehege: „Es wird nicht gesprungen, nicht gerannt und nicht geschrien!“ All das mögen die Tiere nicht.

Der nächste Punkt im Nachmittagsprogramm heißt Bewegen. Die Tiere leben in einem Sozialgefüge ohne Hierarchie, erklärt ihre Besitzerin. „Wenn der Esel merkt, dass ein Kind beim Führen keinen Plan hat“, dann werde er bockig. Bei Eseln müssen die Kinder Entschiedenheit zeigen und können „Chefsein“ spielen. Das Wichtigste: Sie gewinnen das Vertrauen der Tiere und umgekehrt. „Oft sind die Kinder wild, wenn sie herkommen, das Zusammensein mit den Tieren macht sie ruhiger“, so hat Donath beobachtet.

Wenn es zu langweilig wird

Die Kinder trauen sich mittlerweile sogar schon, mit verbundenen Augen und auch rückwärts auf den Tieren sitzend ihre Runden zu drehen. Und ganz nebenbei werden sie auch zu Selbstständigkeit erzogen: Noch werden sie auf ihrer Busfahrt nach Weilheim begleitet. Ziel aber ist, dass sie die bald alleine antreten.

„Den größeren Geschwistern ist die Gruppe jetzt zu langweilig geworden,“ sagt die pensionierte Sonderpädagogin Ramminger. Und sie wertet es als Erfolg, denn die Kinder trauen sich jetzt zum Fußballspiel und in andere weniger geschützte Gruppen.

Auf weitere Fördermittel angewiesen

Die Jesiden sind eine religiöse Minderheit, die im Nordirak, in Nordsyrien und auch in der Türkei lebt. Sie glauben an einen allmächtigen Gott und einen seiner Engel „Melek Taus“.

Der IS hatte den Völkermord an den Jesiden auf seine Fahnen geschrieben. Viele Jesiden flüchteten zunächst ins syrische Sindschar-Gebirge. Dort kam es zu Massenerschießungen der Männer durch die IS-Terroristen, viele Frauen wurden von ihnen verschleppt.

20 000 bis 30 000 jesidische Flüchtlinge schafften die Flucht in irakische Lager. Vor drei Jahren holte Kretschmann ein Sonderkontingent von 1000 besonders schutzbedürftigen jesidischen Frauen und Kindern aus dem Irak ins Land.

Das „Tiergestützte heilpädagogische Freizeitangebot für traumatisierte Kinder und Jugendliche“ läuft seit über einem Jahr. Damit es noch weiterlaufen kann, ist es auf Spenden angewiesen. Spenden können an den Verein Kranke Kinder in der Schule gehen, Kontonummer KSK Tübingen: IBAN DE 28864 1500 2000 0045 5442.

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Erstellt:
19.05.2018, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 34sec
zuletzt aktualisiert: 19.05.2018, 01:00 Uhr

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