Erste Hilfe: Keine Angst vor Blut

Jeanne Abah Abah rettete auf der Tübinger Neckarbrücke einem Mann das Leben

Jeanne Abah Abah rettete auf der Tübinger Neckarbrücke durch ihr beherztes Eingreifen einem Mann das Leben. Lange wusste sie nicht, wie es ihm geht.

17.08.2018

Von Uschi Hahn

Jeanne Abah Abah kennt sich mit Erster Hilfe aus. Sie macht eine Ausbildung als Altenpflegerin. Bild: Metz

Jeanne Abah Abah kennt sich mit Erster Hilfe aus. Sie macht eine Ausbildung als Altenpflegerin. Bild: Metz

Es war heiß an diesem Nachmittag. Drückend heiß. „35 Grad, so etwas habe ich hier noch nie erlebt“, erinnert sich Jeanne Abah Abah an den Freitag Mitte Juli. Die 49-Jährige war auf dem Weg von ihrem Hausarzt in der Südstadt nach Hause zum Marktplatz, wo sie im obersten Stock des evangelischen Gemeindehauses Lamm lebt. Sie lief über die Neckarbrücke, als der Mann umfiel. Einfach so. Vornüber aufs Gesicht.

Abah Abah, die gerade im zweiten Jahr ihrer Ausbildung zur Altenpflegerin im Luise-Poloni- Heim in Lustnau ist, blieb stehen. Der Mann lag reglos auf dem Bürgersteig. War ihm von der Hitze übel geworden. Hatte er zu viel Alkohol getrunken? Passanten liefen achtlos vorbei. „Niemand hat sich um ihn gekümmert.“ Dann sah Abah Abah das Blut neben seinem Kopf. Sie beugte sich zu dem Mann hinunter, kniete sich neben ihn, sprach ihn an. „Er hat nicht reagiert.“

Da wusste Jeanne Abah Abah, die aus Kamerun stammt und in Deutschland keinen gesicherten Aufenthaltsstatus hat, dass der Gestürzte dringend Hilfe brauchte. Sie dachte sofort an ein ernstes gesundheitliches Problem, vermutete einen Schlaganfall oder einen Herzinfarkt. Das war kein Zufall. In den Aufgaben, die sie erst am Morgen zur Korrektur zurückgegeben hatte, ging es genau darum: um die möglichen Ursachen eines Sturzes. Sie hatte sich das eingeprägt: „Es kann ein Schlaganfall sein oder ein Herzinfarkt.“

Auch wusste Abah Abah, die gleich zu Beginn ihrer Ausbildung einen Erste-Hilfe-Kurs gemacht hatte, was jetzt zu tun ist. Sie drehte den leblosen Mann zunächst in die stabile Seitenlage. Doch dadurch verschlimmerte sich die Blutung aus der Nase. Bei dem Sturz war das Nasenbein des Mannes gebrochen. Die Ersthelferin legte ihn auf den Rücken, suchte nach dem Puls. Sie fühlte: nichts. Nicht am Hals, nicht am Handgelenk. Auch seinen Atem konnte sie nicht spüren. „Ich habe gesehen: Er geht“, beschreibt sie ihre Sorge, der Mann könnte vor ihren Augen sterben.

Da begann sie mit der Herzdruckmassage. So wie sie es gelernt hatte. Drückte mit aller Kraft im unteren Drittel des Brustbeins den Brustkorb des Bewusstlosen ein. Immer wieder. Dann beatmete sie den Mann. Und bearbeitete wieder seinen Brustkorb. Das Blut war ihr egal. „Ich wollte, dass er lebt“, sagt Jeanne Abah Abah.

Hilfe von den umstehenden Menschen bekam sie nicht. Nur eine Frau hielt ihr eine Flasche Wasser hin. Mit der befeuchtete sie den Hinterkopf des Mannes, den sie mit all ihrer Kraft und ihrem Wissen am Leben halten wollte. Zwischendurch rief sie immer wieder „Notarzt! Ambulanz!“, erinnert sich Abah Abah an die Extremsituation auf der Neckarbrücke.

Sie machte auch dann weiter mit der Wiederbelebung, als Leute um sie herum sie abhalten wollten. Sie solle doch warten, bis der Arzt kommt, schallte es ihr entgegen. „Nein“, hat sie geantwortet, „wir verlieren zu viel Zeit, er geht.“ Böse ist sie den anderen Passanten nicht. „Da war so viel Blut. Die hatten bestimmt Angst“, vermutet Abah Abah.

Schließlich kamen die Rettungssanitäter und der Notarzt. Sie nahmen den Mann mit. Abah Abah blieb zurück – ihre Bluse und die Hose voller Blut. „Ich habe beides weggeworfen“, sagt sie fast entschuldigend, dass sie keinen Beweis mehr hat für das, was geschehen ist.

Tags drauf ging sie in die Klinik. „Ich wollte unbedingt schauen, wie es ihm geht, ob er überlebt hat“, sagt Abah Abah. Doch sie wusste den Namen des Mannes ja nicht und konnte deshalb auch nichts über seinen Zustand in Erfahrung bringen.

Die nächste Zeit war stressig für die angehende Altenpflegerin. Sie musste auf Prüfungen lernen. Dennoch: „Ich habe immer wieder an den Mann gedacht“, berichtet sie. „Und ich habe für ihn gebetet.“

Als die Prüfungen bestanden waren, wollte sie sich eigentlich noch einmal bei der Polizei erkundigen, was aus dem Mann auf der Neckarbrücke geworden ist. Da gab ihr eine Freundin eine Kopie aus dem TAGBLATT. Ein Leserbrief, in dem eine Frau über die „zweite Geburt“ ihres Freundes berichtete, der auf der Neckarbrücke einen Herzstillstand erlitten hatte und nur durch das „beherzte Eingreifen“ einer unbekannten Lebensretterin oder eines Lebensretters überlebt habe. Der Freund wolle sich gerne bedanken, stand in dem Leserbrief. Seine Kontaktdaten seien übers TAGBLATT zu bekommen.

Da war Jeanne Abah Abah klar: „Das bin ja ich.“ Sie meldete sich in der Redaktion und erzählte ihre Geschichte. Inzwischen hat sie mit dem Mann telefoniert. Er will anonym bleiben. Dem TAGBLATT gegenüber sagte er, er wolle seine Retterin besuchen, sie persönlich kennenlernen. An seinen Sturz kann er sich nicht erinnern.

Abah Abah aber wird die Situation auf der Neckarbrücke nie vergessen. „Es ist für mich eine große Freude, dass er überlebt hat“, versichert sie immer wieder. „Der Typ hatte einfach nur Glück, dass ich vorbei kam“, sagt die angehende Altenpflegerin im Nachhinein über ihr couragiertes Eingreifen. „Wenn ich nicht die Ausbildung machen würde, hätte ich bestimmt auch Angst gehabt.“

Seit 2013 lebt Jeanne Abah Abah in Tübingen. Wieder. Sie war schon einmal hier – als Studentin. Mit dem Vordiplom im Fach Internationaler Agrarhandel in der Tasche musste sie damals jedoch zurück nach Kamerun.

Die Ausbildung zur Altenpflegerin jetzt ist so etwas wie ein innerfamiliärer Kompromiss. Ihre inzwischen verstorbene Mutter habe „immer gewollt, dass ich Ärztin werde“. Dazu sei es leider nicht gekommen. „Der Numerus Clausus war dagegen.“ Doch Altenpflege habe ja „auch ein bisschen mit Medizin zu tun“, findet Abah. Genug jedenfalls, um ein Menschenleben zu retten. „Meine Mutter“, sagt die 49-Jährige mit leiser Stimme, „wäre jetzt stolz auf mich.“

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Erstellt:
17.08.2018, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 54sec
zuletzt aktualisiert: 17.08.2018, 01:00 Uhr

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