Weihnachtsspendenaktion: Rätsel der müden Familie

Jasmin Kümmerle-Deschner versucht herauszufinden, woran Patienten mit diffusen Symptomen leiden

Es kommt nicht alle Tage vor, dass Ärzte eine Familienfeier auf dem Dorf besuchen, um eine Krankheit zu diagnostizieren. Doch Jasmin Kümmerle-Deschner ist es gewohnt, ungewöhnliche Wege zu gehen, um Erkrankungen auf die Spur zu kommen.

09.12.2017

Von Ulrich Janßen

Zur unverhofften Festbesucherin wurde sie im Jahr 2004, als ein kleiner Junge wegen seltsamer Symptome zu ihr kam: Hohe Entzündungswerte, Fieber, Ausschlag. Sie fand keine Krankheit, die dazu passte.

Beiläufig unterhielt sich die Kinderärztin damals mit Mutter und Schwester des kleinen Patienten und stellte fest, dass beide schwerhörig waren. „Ich redete sehr laut“, erinnert sie sich, „und die beiden erzählten mir, dass es bei ihren Familienfeiern auch immer sehr laut zuging.“ 13 Familienmitglieder seien nämlich schwerhörig. 13 Familienmitglieder? „Da fragte ich die beiden, ob ich mal zu einer Feier kommen dürfte.“

Auf dem Fest stellte sie bald fest, dass die Verwandten nicht nur schwerhörig waren, sondern ebenfalls an Ausschlag, Entzündungen und Gelenkbeschwerden litten. „Außerdem war die Familie im ganzen Dorf für ihre ständige bleierne Müdigkeit bekannt.“ Kümmerle-Deschner veranlasste eine genetische Analyse und entdeckte, dass alle Schwerhörigen in der Familie die gleiche Mutation aufwiesen. Eine Mutation, die 1962 erstmals als „Muckle-Wells-Syndrom“ beschrieben worden war und die perfekt zu den Symptomen passte. Es war das reine Glück, dass für die äußerst seltene Krankheit gerade ein Medikament entwickelt worden war, mit dem Kümmerle-Deschner der Familie helfen konnte. Allen ging es besser. Und ganz nebenbei lernten auch noch die Nachbarn im Dorf, dass die vermeintlichen Schlafmützen einfach nur krank waren.

Lange Leidenswege

Ein schöne Geschichte war das, und ein medizinischer Glücksfall, der Kümmerle-Deschners berufliche Laufbahn in eine neue Richtung trieb: „Aus dem Fall heraus entwickelte sich der Impuls zur Gründung eines neuen Zentrums.“ Das Autoinflammations Referenz Zentrum gehört heute zum Netzwerk des Tübinger Zentrums für seltene Erkrankungen (ZSE), der ersten Einrichtung dieser Art in Deutschland.

Zahlreiche Institute und Zentren haben sich unter dem Dach des ZSE zusammengeschlossen, um besonders schwierige Krankheiten zu diagnostizieren und zu behandeln. Viele der Krankheiten haben mit Mutationen zu tun und treten schon in der Kindheit auf. Es ist deshalb kein Zufall, dass vor allem die Universitäts-Kinderklinik im ZSE mitwirkt. Auch Jasmin Kümmerle-Deschner ist Kinderärztin und auf kindliche Rheumaerkrankungen spezialisiert. Sie leitet heute das Autoinflammations-Zentrum, das Krankheiten erforscht, die mit angeborenen entzündlichen Störungen des Immunsystems zu tun haben.

Die 53-Jährige macht kein Geheimnis daraus, dass es ihr großen Spaß macht, schwierige Fälle zu lösen und zusammen mit anderen Experten Diagnosen und Therapien für Krankheiten zu finden, die oft noch nicht einmal einen Namen haben. Im Vordergrund steht für die Medizinerin allerdings nicht der Spaß, sondern die Möglichkeit, Menschen zu helfen kann, die einen langen Leidensweg hinter sich haben: „Wenn diese Patienten zu uns kommen, bringen sie meist schon dicke Ordner mit Unterlagen mit.“

Wer an diffusen Symptomen leidet wie starker Müdigkeit, Entzündungen, Ausschlag, Bauchschmerzen, Hör- und Sehbeschwerden und gelegentlichem Fieber, wird vom Hausarzt nicht immer ernst genommen. Notgedrungen arbeiten sich die unverstandenen Patienten dann von einem Arzt zum nächsten weiter. „Der Verdacht ist natürlich da, dass bei solchen Patienten auch psychosomatische Faktoren im Spiel sind.“ Tatsächlich kann das gelegentlich auch der Fall sein, weshalb Kümmerle-Deschner jeden Fall erstmal ihrer „sehr fitten Case-Managerin“ übergibt, ehe sie einen Patienten aufnimmt. Dann erst beginnt sie die mühselige und aufwändige Suche nach der Krankheit, die für die ungewöhnliche Versammlung von Beschwerden verantwortlich sein könnte.

Wer „seltene Erkrankungen“ erforscht, braucht viele gute Partner. Genetiker, Kardiologen, Gastroenterologen, Immunologen, Hautärzte, HNO-Spezialisten: Alle tragen ihr unterschiedliches Wissen bei. Hilfreich ist, dass die meisten Forscher heute international gut vernetzt sind. Kümmerle-Deschner ruft ohne Scheu auch beim amerikanischen NIH an, der weltweit wichtigsten Behörde für biomedizinische Forschung: „Dort habe ich eine Freundin.“

Wie heißt die Krankheit?

Die Mediziner profitieren vor allem von den Fortschritten der Gentechnik. Anders als Autoimmunkrankheiten wie Rheuma, die auf Störungen des erworbenen Immunsystems beruhen, sind bei den autoinflammatorischen Krankheiten Störungen des angeborenen Immunsystems im Spiel. Störungen also, die auf Mutationen zurückzuführen sind. Leider ist das menschliche Genom enorm groß und komplex und lässt sich nicht einfach durchscannen wie die Elektrik eines Autos. Das macht die Suche schwierig.

Für die Patienten ist es aber oft schon eine große Erleichterung, wenn ihre Krankheit einen Namen hat. Endlich fühlen sie sich ernst genommen, endlich kennen sie den Grund für ihre Leiden und sind den Ruf des Simulanten los. In gut der Hälfte aller Fälle gelingt es, eine schon bekannte Krankheit zu finden oder eine gänzlich unbekannte, die dann vom Entdecker benannt werden darf. Welche Namen werden in so einem Fall vergeben? Das ist ganz unterschiedlich, sagt Kümmerle-Deschner. Mal dürfen sich die Entdecker verewigen, mal nimmt man einfach die Gen- oder Proteinsequenz, die für die Krankheit verantwortlich ist.

In vielen anderen Fällen aber müssen die Patienten noch warten. Weil die Krankheiten so selten sind und die Forschung so aufwändig, brauchen die Mediziner viel Zeit und Geld. Unglücklicherweise zahlen Krankenkassen nur für Diagnoseverfahren und Therapien, die sich bewährt haben, und Pharmafirmen finanzieren nur Forschung, die sich später auch verkaufen lässt. Für das SCHWÄBISCHE TAGBLATT war das ein Grund, das Zentrum für seltene Erkrankungen erneut in seine weihnachtliche Spendenaktion aufzunehmen.

Kümmerle-Deschner, die vom hochangesehenen ehemaligen Kinderklinik-Direktor Prof. Dietrich Niethammer wissenschaftlich entdeckt und gefördert wurde, hofft, dass die TAGBLATT-Leser/innen die Arbeit des Zentrums unterstützen. Das lohne sich, versichert die Ärztin: „Ich kann mich an einen 80-Jährigen erinnern, dem wir irgendwann helfen konnten, nachdem er vergebens von einem Arzt zum anderen gelaufen war.“

Dieser Mann war zwar glücklich, dass es ihm besser ging und er endlich wusste, woran er gelitten hatte. Aber: „Er hatte das Gefühl, man habe ihn um sein ganzes Leben betrogen.“

Prof. Jasmin Kümmerle-Deschner: Kinderärztin

1964 geboren in Stuttgart

1984 Abitur am Neuen Gymnasium in Feuerbach

1985 - 93 Studium der Medizin in Tübingen und Providence, USA

seit 1993 Ärztin an der Universitätskinderklinik Tübingen

seit 2000 Ärztin für Kinderheilkunde

seit 2002 Leitung der rheumatologischen Ambulanz

seit 2011 Leitung des Autoinflammations Referenz Zentrums

So können Sie die Arbeit der Ärzte unterstützen

Spenden können Sie auf das Konto der Kreissparkasse Tübingen (IBAN: DE94 6415 0020 0000 1711 11 ). Bitte notieren Sie Ihre vollständige Adresse, wenn Sie eine Spendenquittung benötigen (bei Beträgen unter 200 Euro akzeptiert das Finanzamt einen Kontoauszug). Vermerken können Sie auch, wenn Sie nicht namentlich erwähnt werden oder nur ein bestimmtes Projekt unterstützen wollen. Die „seltenen Krankheiten“ sind in diesem Jahr Projekt 2, Projekt 1 ist „KIKE“.

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Erstellt:
09.12.2017, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 4min 16sec
zuletzt aktualisiert: 09.12.2017, 01:00 Uhr

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