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Personalmangel in Tübingen und Reutlingen: die große Leere

Pleiten drohen, Wachstum wird gehemmt: Viele Firmen der Region bekommen nicht genug Arbeitskräfte. Unzählige Ursachen reichen von mangelnder Digitalisierung über fehlende Kinderbetreuung bis zum Zeitgeist. Der Hintergrund aber ist der demografische Wandel. Eindrücke aus den Landkreisen Tübingen und Reutlingen.

13.03.2023

Von Eike Freese

Fachkraft gesucht: und zwar verzweifelt! Auch bei uns in der Region.Bild: Uhland2

Fachkraft gesucht: und zwar verzweifelt! Auch bei uns in der Region. Bild: Uhland2

Ist es wirklich so einfach? Manche Fachleute sagen, man müsse eigentlich nur eine einzige Branche vom Fachkräftemangel erlösen, dann entspanne sich die Lage schon deutlich: die der Bildung nämlich. Wenn Schulen, Kitas und Horte in der Region so funktionieren, dass jeder Vater und jede Mutter, die mehr arbeiten will, das auch kann, dann wäre schon extrem viel gewonnen. 70 freie Kita-Stellen meldete uns jüngst die Stadt Reutlingen, in Tübingen waren am Jahresende zehn Prozent der Erzieherinnen-Stellen nicht besetzt. Hochgerechnet auf Eltern, die dann etwas mehr Zeit für ihre Karriere haben? Durchaus relevante Zahlen.

Aber nein, so einfach ist es natürlich nicht. Das Phänomen Fachkräftemangel in der Region ist um ein Vielfaches komplexer. Seit Jahrzehnten war das Thema nicht mehr so akut, so branchenübergreifend, so multifaktoriell und auf absehbare Zeit so andauernd. Das Bundeswirtschaftsministerium verortet die eigentlich bundesweite Personalkrise in vielen Branchen regional vor allem in Süddeutschland. Statistiken vor Ort geben Berlin Recht: In der jüngsten Konjunktur-Umfrage sehen rund 60 Prozent der Betriebe der Region im Fachkräftemangel das größte Risiko.

Bis 2035, diese Zahl stellt die örtliche IHK in den Raum, fehlen in den Landkreisen Tübingen, Reutlingen und Zollernalb 61 000 Beschäftigte. Darunter seien allein 50 000 Fachkräfte mit einer dualen Ausbildung. Und eine Entspannung ist nicht absehbar, das sagt allein schon die Demografie: Das Durchschnittsalter in der Region Neckar-Alb liegt aktuell bei 43,6 Jahren. „Der demografische Wandel ist eindeutig die Grundlage der aktuellen Situation“, sagt Oliver Kerl, Geschäftsführer der Arbeitsagentur für den Bezirk Tübingen-Reutlingen. Junge Leute werden in dieser Situation zum begehrten Gut, akademische Branchen und klassische Ausbildungsberufe versuchen inzwischen, sich den Nachwuchs gegenseitig abzuwerben. „Demografie als Schlagwort gibt es zwar schon seit Jahrzehnten“, so Kerl, „aber erst jetzt merken viele, dass es auf breiter Ebene relevant wird.“

Auch Kerl weist aber darauf hin, dass Problem und Lösung nur in der Mehrzahl adressiert werden können: „Wir haben eine Änderung des Zeitgeists, wir haben die Pandemie, mangelnde Digitalisierung und viele weitere Faktoren, die die Lage beeinflussen“, so der Agenturchef. „Das Gute ist: So viele Problemfelder wir haben, so viele mögliche Lösungsansätze gibt es auch.“

Kluge Entscheider in den Unternehmen entwickeln deshalb schon seit Jahren Ideen, um auf die neue Rolle der Firmen auf dem Arbeitsmarkt zu reagieren. „In vielerlei Hinsicht müssen Unternehmen für Beschäftigte mehr leisten“: So formulierte das Phänomen Marcus Felstead, Chief Commercial Officer bei Erbe Elektromedizin, kürzlich. Beim Medizintechnik-Global-Player aus Tübingen reagiert man sogar architektonisch auf die neue Zeit: Der neue Erbe-High-Tech-Standort in Rangendingen bekommt etwa auch offene, adaptive Arbeits-, Büro- und Sozialräume, die auf die moderne Arbeitswelt, erweiterte Kommunikationserfordernisse, Home-Office-Kultur und mobiles Arbeiten eingehen – und auch einen gewissen Firmen-Stil ansprechen. Mit engagiertem „Employer Branding“, so Felstead, stelle sich Erbe aktuellen und künftigen Beschäftigten als attraktiver Arbeitgeber dar. „Nur so bekommen wir auch künftig die Leute, die wir haben wollen“, so Felstead: „Die haben ja in Zeiten wie diesen immer auch andere Möglichkeiten.“

Zeiten wie diese: Dazu gehören nach Ansicht von Arbeitsagentur-Chef Kerl auch veränderte Vorstellungen vom Wert der Arbeit an sich. „Die Corona-Krise hat da vieles potenziert, aber sie ist sicher nicht die einzige Ursache.“ In Zeiten der Kurzarbeit hätten sich in einigen Branchen Grundsatzfragen gestellt: Passt mir das Verhältnis von Lohn und Arbeit? Von Arbeit und Familie? Von Arbeitszeiten und dem, was mein Leben von mir fordert? „Für viele hat in der Abwägung der Work-Life-Balance der Wert ‚Life‘ einen neuen Wert bekommen“, so Kerl: „Das muss man erstmal ganz wertfrei feststellen. Einige Arbeitgeber reagieren darauf und bieten etwa eine Vier-Tage-Woche an.“ Patentrezepte kann man daraus nicht ableiten, außer vielleicht eines: Betriebe können sich in Zukunft nicht darauf ausruhen, dass sich freie Stellen von selbst irgendwie füllen. Sie müssen sich den Beschäftigten anpassen.

„Arbeitgeber sind heute in einer Bewerber-Position“: Das sagt Thomas Taubenberger, einer von vier Vorständen der Volksbank in der Region. Die Volksbank merkt den Fachkräftemangel etwa bei ihren Anstrengungen um IT-Experten: „Das sind begehrte Leute und sie arbeiten in einem Bereich, der für die wirtschaftliche Zukunft jedes Unternehmens wirklich entscheidend ist“, sagt Taubenberger. „Wir als Arbeitgeber müssen uns dafür einsetzen, dass wir für diese Menschen auch abseits vom reinen Geld attraktiv bleiben. Und als Gesellschaft müssen wir uns darum bemühen, dass wir mehr ausbilden in den Qualifikationen, die wir brauchen.“

Erst neulich berichtete in Tübingen Ex-Bundesministerin Andrea Nahles, Chefin der Bundesagentur für Arbeit, dass ihr eigener IT-Leiter mehr verdient als sie als Vorstandsvorsitzende. Nichts verdeutlich den Kampf um Know-How mehr als dieses Beispiel. Ist die Chefin möglicherweise bald grundsätzlich nicht mehr die „wertvollste“ Mitarbeiterin in einem Betrieb? „Sicher ist, dass in vielen Branchen auch am Lohn gearbeitet werden muss“, sagt Agenturchef Oliver Kerl: „Daimler oder Porsche haben definitiv weniger Probleme, an gute Leute zu kommen.“

Und wenn es „die Leute“ in Deutschland einfach – noch – nicht gibt? Gezielte Einwanderung ist ein Leitspruch, den auch die IHK in der Region offensiv vertritt. Sie will die angekündigte Reform des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes und dabei vor allem die Einwanderung zur Ausbildungsplatzsuche vereinfachen, ohne die bestehende Vorrangprüfung für Einheimische. Die Wirtschaft erledige dabei einen Gutteil der Integrationsarbeit von selbst, sagt etwa Wolfgang Epp, Hauptgeschäftsführer der IHK Reutlingen: „Die jungen Leute, die für die Ausbildung zu uns kommen, sind über Betrieb und Berufsschule vom ersten Tag an eingebunden, bekommen automatisch Kontakte und finden sich besser zurecht.“ Sprachkurse müssten natürlich dazukommen und auch die Anerkennung von ausländischen Abschlüssen müsse besser werden.

Und doch glaubt Arbeitsagentur-Chef Kerl nicht daran, dass auch die erfolgreichste Einwanderungs- und Integrationspolitik alle Probleme löst. „Ganz egal, was wir an Zuwanderung kriegen, es wird niemals den Fachkräftebedarf reduzieren“, sagt Kerl. Deshalb findet er das jüngst in Kraft getretene Bürgergeld der aktuellen Ampel-Regierung so gut, weil es den Schwerpunkt noch einmal mehr auf die Qualifikation von Beschäftigten, Arbeitslosen und Berufswechslern in Zeiten des Strukturwandels legt. Auch Bemühungen zur Inklusion seien in vielen Branchen vielversprechend.

Womit auch die Frage gestellt ist, wieweit der Fachkräftemangel überall ein Mangel von veritablen Experten ist. Profilmetall-Chefin Daniela Eberspächer-Roth berichtete in der vergangenen Woche, dass ihr Betrieb bei der Suche nach einem Lageristen jüngst eine einzige Bewerbung auf dem Tisch hatte – auf einen Chefposten indes bewarben sich knapp 300 Leute.

„In weiten Teilen unserer Wirtschaft leiden Unternehmen gar nicht immer unter einem wirklichen Fachkräftemangel“, sagt etwa Joachim Eisert, Hauptgeschäftsführer der Handwerkskammer in der Region. „Manche Betriebe brauchen keine Genies, die brauchen einfach gute Leut‘!“ Bei der Personalknappheit im Verkauf von Bäckereien etwa sei nicht selten das Problem, dass die Frauen hinter dem Tresen keine Betreuung für ihre Kinder finden. In anderen Branchen, etwa dem Metzgerhandwerk, sind es eher Image-Fragen, die zur Not führen. „Solche Dinge können wir im Handwerk aber sicher auch mit engagierter Image-Arbeit und Aufklärung abfedern“, sagt Eisert. Die Metzgerei sei mehr High-Tech als mancher glaube. Und, fragt er: Ist es nicht erfüllender, in einer modernen, kreativen Schreinerei zu arbeiten, als im Büro tagein tagaus auf Excel-Tabellen zu starren?

Fachkräfte- und Personalmangel in der Region

Die Fachkräftelücke bundesweit betrug im Dezember 2022 knapp 533 000 Stellen im Bundesgebiet. Das meldet das so genannte „Kompetenzzentrum Fachkräftesicherung“, ein Projekt des Bundeswirtschaftsministeriums. Der Wert meint die Zahl der Stellen, für die es keine passend qualifizierten Arbeitslosen gibt. Damit ist die Fachkräftelücke zwar leicht rückläufig, bleibt aber weiterhin auf einem hohen Niveau. Die Zahl der offenen Stellen für Qualifizierte erreichte im Dezember 2022 den Stand von bundesweit 1,2 Millionen. Dieser Wert war der höchste Dezemberwert an offenen Stellen seit dem Jahr 2011. Die Zahl der Arbeitslosen insgesamt stieg im Vergleich zum Vorjahreswert nur geringfügig um etwa 0,7 Prozent.