Die EU vereinfacht den Alltag

Interview mit Martin Kotthaus vom Auswärtigen Amt

Der Leiter der Europaabteilung im Bundesaußenministerium, Martin Kotthaus, beantwortet am Dienstag auch kritische Fragen zur EU.

22.11.2017

Von Gernot Stegert

Wie geht es weiter mit Europa? Welche Rolle hat Deutschland? Und wie ist der Blick der anderen Staaten auf die Europäische Union und Deutschland? Das Auswärtige Amt und das SCHWÄBISCHE TAGBLATT laden zur Diskussion am Dienstag, 28. November, um 19 Uhr im Silchersaal des Museums ein. Willkommen sind alle, ob sie eher die Vorteile der EU sehen oder ob die Kritik überwiegt. Der Leiter der Europaabteilung des Auswärtigen Amts, Martin Kotthaus, wird sich ohne lange Vorrede und Podiumsdiskussion direkt den Fragen der Zuhörer stellen. Es moderiert TAGBLATT-Chefredakteur Gernot Stegert. Einlass ist um 18.30 Uhr. Der Eintritt ist frei. Eine Anmeldung ist aber zur Planung erforderlich – per Email an service@tagblatt.de mit dem Betreff „Außenpolitik live“.

Vorab haben wir Kotthaus ein paar Fragen gestellt.

Europa polarisiert. Die einen sehen weiterhin das Friedensprojekt, das mit offenen Grenzen und gemeinsamen Standards den Alltag erleichtert. Die anderen fürchten einen scheiternden Koloss, der regionale Besonderheiten plattmacht. Wer hat recht? Vielleicht sogar beide?

Martin Kotthaus: Nach Jahrhunderten der blutigen Konflikte in Europa hatten wir seit 1945 keine Kriege mehr in der Europäischen Union. Nie war unser Kontinent demokratischer, wohlhabender, sicherer, rechtsstaatlicher und stabiler als in der Europäischen Union. Wir leben in der längsten Friedensphase unserer Geschichte.

Gleichzeitig macht die EU unser tägliches Leben einfacher, zum Beispiel offene Grenzen, die gemeinsame Währung oder die Abschaffung der Roaming-Gebühren. Heutzutage alles selbstverständlich, aber nichtsdestotrotz ohne die EU undenkbar. Angesichts der Größe der Union ist die Sorge vieler Menschen, dass alles „gleich gemacht“ wird, auf den ersten Blick nachvollziehbar. Ich glaube aber nicht, dass sie begründet ist. Auch wenn Deutschland und zum Beispiel Spanien eine gemeinsame Währung teilen – die spannenden und bereichernden Unterschiede bleiben doch bestehen. Und darum reisen so viele Europäer nach Tübingen und
viele Schwaben nach Spanien – weil jeder Ort eben etwas Besonderes ist. Deswegen ist es gut, dass das Motto der EU lautet „in Vielfalt geeint“.

Wofür wird die Europäische Union

zu Unrecht kritisiert?

Manchmal könnte es schneller gehen. Aber: In Europa werden dicke Bretter gebohrt. Es geht darum, gemeinsame Regeln für 28 Staaten, 28 Parlamente, 28 Regierungen und 28 unterschiedliche Traditionen zu finden. Es funktioniert und es müssen nicht 28 einzelne Prozesse angeschoben werden, sondern nur einer. Das europäische Recht ersetzt ja 28 verschiedene nationale Regelungen. Zudem: die Stadt München mit 1,4 Millionen Einwohnern hat rund 30000 Mitarbeiter. Rund 45000 Menschen in den drei EU Institutionen Kommission, Parlament und Rat arbeiten für 500 Millionen EU-Bürger. Da erscheint die EU eher schlank als ausufernd.

Was waren die größten Fehler der EU?

Ich glaube, dass wir alle, also Mitgliedsstaaten aber auch EU-Institutionen die Bürger ganz allgemein besser und rechtzeitiger in die europäischen Entscheidungsprozesse einbinden müssen. Und dazu auch öfters nach Tübingen kommen sollten.

Was muss dagegen getan werden? Wie ist die EU zu reformieren?

Ganz oben auf der Liste für die nächsten zehn Jahre: konkrete Fortschritte bei Sicherheit und Stabilität, Wachstum und Arbeitsplätzen sowie gemeinsame Anstrengungen für ein soziales Europa. Einigkeit auch, dass die Rolle Europas in der Welt gestärkt werden muss. Europa muss in der Lage sein, Krisen in seiner Nachbarschaft selbst zu lösen. Diese Zukunftsagenda müssen wir in engem Austausch mit den Bürgerinnen und Bürgern konkretisieren, wie zum Beispiel mit den Dialogreihen des Auswärtigen Amts, bei der wir in ganz Deutschland, so am 28. November in Tübingen, Diskussionsveranstaltungen zu Europa durchführen. Frankreichs Präsident Macron hat vor wenigen Wochen die Idee von Bürgerkonventen ins Spiel gebracht. Ich glaube, diese Initiativen zeigen in die richtige Richtung.

Wir Deutschen sehen uns immer als Motor der EU und andere als Bremser. Stimmt das Bild?

Jeder Staat in der EU ist irgendwo Bremser und anderswo Treiber. Wir müssen bei der Fortentwicklung der EU da ansetzen, wo Handlungsbedarf besteht und beharrlich auf gemeinsame Lösungen hinarbeiten. Wenn es nicht zu 28 funktioniert, dann müssen diejenigen vorangehen, die das wollen. Wie jetzt die 23 Mitgliedstaaten, die sich auf eine engere Kooperation im Bereich Sicherheit und Verteidigung geeinigt haben. Vor ein paar Jahren noch unvorstellbar. Wie bei Schengen bleibt diese Zusammenarbeit offen für die Mitgliedstaaten, die jetzt noch nicht mitmachen wollen.

Hat nicht beispielsweise Bundeskanzlerin Angela Merkel in der Flüchtlingskrise mit der Grenzöffnung einen unabgesprochenen Alleingang hingelegt, der Hauptgrund oder zumindest Anlass dafür ist, dass andere EU-Staaten keine Flüchtlinge aufnehmen wollen?

Von Anfang an hat sich die Bundesregierung für europäische Lösungsansätze eingesetzt. Wir wollten keinen EU-Staat alleine lassen – auch nicht die an den Außengrenzen. Und haben gemeinsam geschafft, dass die Zusammenarbeit mit Herkunfts- und Transitstaaten deutlich intensiviert und die Fluchtursachen
besser in den Griff bekommen wurden. Die EU schloss die
Vereinbarung mit der Türkei und griff gleichzeitig Griechenland, aber auch den anderen Staaten an der EU-Außengrenze kräftig unter die Arme. Mit dem schnell fühlbaren Ergebnis: Die Zahlen der Flüchtlingsströme sind drastisch gesunken, wie auch die Zahl der Opfer im Mittelmeer abgenommen hat, auch wenn es immer noch zu viele sind.

Gleichzeitig arbeiten wir alle daran, das gemeinsame europäische Asylsystem weiterzuentwickeln. Das ist ein schwieriger Prozess, und in der Tat ist die Bereitschaft der Mitgliedstaaten, Flüchtlinge aufzunehmen, unterschiedlich stark ausgeprägt. Da sind wir dann wieder bei den dicken Brettern: Das funktioniert eben nicht von heute auf morgen. Aber wir sind dran.

Das Auswärtige Amt hat die Veranstaltungsserie „Außenpolitik live – Diplomaten im Dialog“ gestartet. Wer soll kommen und welche Überschrift wünschen Sie sich hinterher?

Viele in Europa schauen auf uns als größten Mitgliedsstaat in der Mitte des Kontinents. Deutschland lebt von Austausch und Handel. Wir wollen mit der Veranstaltungsreihe die Möglichkeit eröffnen, gemeinsam zu diskutieren, was außenpolitische Verantwortung in der Praxis bedeutet und warum wir glauben, dass es wichtig ist, dass sich die Bürger für Außen- und Europapolitik interessieren und sich daran beteiligen. Ich freue mich auf eine rege Diskussion. Und überlasse die Überschrift Ihnen als Journalisten.