Diktate und Schönschreiben?

Interview mit Erziehungswissenschaftler Thorsten Bohl über die Ideen der CDU

Was der Tübinger Erziehungswissenschaftler Prof. Thorsten Bohl von den pädagogischen Ideen der baden-württembergischen CDU hält.

22.01.2018

Von Ulrich Janßen

Alles ist geprägt von einer guten pädagogischen Beziehung zwischen Schülern und Lehrern, sagt Prof. Thorsten Bohl.Bild: © Drubig / Fotolia

Alles ist geprägt von einer guten pädagogischen Beziehung zwischen Schülern und Lehrern, sagt Prof. Thorsten Bohl.Bild: © Drubig / Fotolia

Zurück zum Frontalunterricht, mehr Diktate, mehr Schönschreib-Übungen und grundsätzlich mehr Disziplin im Klassenzimmer: Die neuen pädagogischen Ideen aus den Reihen der baden-württembergischen CDU kommen gut an bei Eltern, die schon immer den Verdacht hatten, dass die Kinder heute in der Schule nichts Ordentliches mehr lernen. Aber sind sie auch sinnvoll? Wir sprachen mit Prof. Thorsten Bohl. Der Tübinger Schulpädagoge begleitete im Auftrag der grün-roten Landesregierung die Einführung der Gemeinschaftsschule mit einer großen wissenschaftlichen Studie.

Herr Bohl, was halten Sie davon, dass Schüler mehr Schönschreiben üben sollen?

Gegen Schönschreiben ist ja nichts einzuwenden, aber bevor man schön schreibt, muss man überhaupt erstmal gut schreiben können. Und das ist in der heutigen heterogenen Grundschule, in der Flüchtlings- und Inklusionskinder neben Akademikerkindern sitzen, nicht mehr selbstverständlich. Da schwankt die Schreib- und Lesefähigkeit in einer einzigen Klasse zum Teil um vier Klassenstufen. Schönschreiben ist in so einer Situation nicht unbedingt das wichtigste Thema.

Und Frontalunterricht?

Wer nach Frontalunterricht ruft, soll mal erklären, wie das in einer Klasse funktioniert, in der die Fähigkeiten und Kenntnisse so extrem auseinander fallen. Da kommen die einen nicht mehr mit, wenn der Lehrer vorträgt, und die anderen langweilen sich. Frontalunterricht lässt sich übrigens auch mit dem politisch ja erwünschten verstärkten Einsatz digitaler Medien im Unterricht nicht sinnvoll kombinieren.

Aber selbst beibringen können sich die Kinder das Lesen und Rechnen ja auch nicht, oder?

Ich bin überhaupt nicht dagegen, wenn ein Lehrer der ganzen Klasse etwas erklärt. Im Gegenteil. Allerdings ist Frontalunterricht der falsche Begriff. „Direkte Instruktion“ wäre passender, und die ist sehr wichtig. Aber sie muss gezielt eingesetzt werden, und man muss die unterschiedlichen individuellen Möglichkeiten der Kinder im Blick haben. Es braucht deshalb eine intelligent organisierte Unterrichtsstruktur, in der Phasen direkter Instruktion abwechseln mit Phasen projektbezogener Teamarbeit und selbstorganisiertem Lernen – jeweils abhängig von den Voraussetzungen der Lernenden.

Kriegen die Lehrer das hin?

Eine berechtigte Frage. Auf die Lehrer kommt es an, das ist bekannt. Gebraucht werden heute Lehrer, die mit Heterogenität umgehen können, die einschätzen können, welche Vorausetzungen und Bedarfe die Lernenden haben oder wieviel Freiheitsgrade die einzelnen Schüler vertragen. Das ist ja sehr unterschiedlich.

Thorsten Bohl. Bild: Uni Tübingen

Thorsten Bohl. Bild: Uni Tübingen

Was zeichnet gute Lehrer aus?

Das kann man nicht so einfach beantworten. Studien zeigen zum Beispiel, dass erfahrene und gute Lehrer sich unterschiedlich verhalten, je nach dem, wo sie unterrichten. Sie passen sich der Situation in unterschiedlichen Klassen sehr flexibel an.

Gibt es eine Lehrerpersönlichkeit?

Die Persönlichkeit des Lehrers spielt eine große Rolle, das ist klar. Lehrer sollten selbstbewusst sein, souverän auftreten, die Kinder kognitiv aktivieren können. Aber da gibt es eine wahnsinnig große Bandbreite, weshalb der Persönlichkeitsbegriff letztlich auch nicht wirklich weiterhilft. Lehrer brauchen noch weitere Stärken, zum Beispiel Distanzierungsfähigkeit. Sie müssen, ganz banal gesagt, den Konflikt im Klassenzimmer vergessen können, bevor sie sich schlafen legen.

Wie wichtig sind Fachkenntnisse?

Sehr wichtig. Lehrer brauchen ein gutes Fachwissen, außerdem die Fähigkeit, dieses Wissen didaktisch zu vermitteln, und sie brauchen auch pädagogisches Wissen, um im Unterricht die Voraussetzung für Lernen zu schaffen. Wenn das erste fehlt, wird es für die anderen Punkte schwierig und für Lehrer stressig. Fachwissen ist die Voraussetzung für sehr viel, vor allem übrigens in differenzierten und variabel organisierten Unterrichtssituationen. Da müssen Lehrer sehr schnell erkennen, was ein Schüler beherrscht und wo die Probleme liegen. Aber natürlich ist alles geprägt von einer guten pädagogischen Beziehung.

Was die CDU noch fordert, ist mehr Disziplin gegen angeblich „überbordendes Laissez-faire“. Zurecht?

Ich habe überhaupt nichts gegen Disziplin und Leistung. Das ist unabdingbar und hilft auch den schwächeren Schülern. Aber es kommt darauf an, wie man Disziplin herstellt, in welchen Settings das erfolgt. Ich sehe jedenfalls nicht, an welchen Schulen ein „überbordendes Laissez-faire“ herrschen würde. An Grundschulen überhaupt nicht. Und wenn damit Gemeinschaftsschulen gemeint sein sollten - dann zeigt etwa unsere WissGem-Studie, dass ein pauschales Urteil angesichts deutlicher Unterschiede zwischen und innerhalb der Schulen nicht möglich ist.

Viele Eltern haben trotzdem den Verdacht, dass die Lehrer sich in
den Klassenzimmern nicht mehr durchsetzen können.

Die gewachsene Heterogenität und viele andere gesellschaftlichen Entwicklungen tragen sicher dazu bei, dass die Kinder heute nicht mehr so leicht zu unterrichten sind. Es kann deshalb schnell unruhig werden im Klassenraum. Entsprechend wichtig ist das Classroom-Management, die gute Klassenführung. Aber das ist ein komplexes Thema und hat viele Aspekte. Es kommt dabei nicht nur auf den einzelnen Lehrer an, sondern auch auf die Kooperationsqualität im Kollegium, die Unterstützung durch die Schulleitung oder die Ausstattung.

Trotzdem gibt es vermutlich auch Lehrer, die für den Beruf nicht geeignet sind.

Natürlich. Aber die Frage ist, wie können wir dies feststellen? Im Studium? Können wir es da beurteilen? Oder nachher im Referendariat? Es ist ethisch ja gar nicht so einfach, jemandem dann zu sagen, du solltest es besser sein lassen. Ganz davon abgesehen hat man derzeit eher den Eindruck, dass alle Kandidaten genommen werden müssen, um den Lehrerbedarf abzudecken.

Das Schulsystem im Transformationsprozess

Mit der Einführung der Gemeinschaftsschule und dem Niedergang der Hauptschule sowie neuen Themen wie Inklusion, Ganztag oder Umgang mit Heterogenität ist nach Einschätzung von Thorsten Bohl das baden-württembergische Schulsystem in einen heftigen Transformationsprozess geraten, der noch lange nicht beendet ist. Die neue Gemeinschaftsschule liegt zur Zeit quer zu den herkömmlichen Schulformen, was zu einer harten Konkurrenz um die Schüler führt. Gymnasien, berufliche Gymnasien, Gemeinschaftsschulen und Realschulen werben insbesondere um mittlere und leistungsstärkere Schüler. Wenn es nach Bohl geht, sollte es langfristig zwei große Schultypen geben: Die Gymnasien (inklusive der beruflichen Gymnasien) und einen zweiten Schultyp, der Real- und Gemeinschaftsschulen vereinigt. In diesem neuen Schultyp könnten Schüler in neun Jahren das Abitur machen, während die Gymnasien laut Bohl konsequent G 8 anbieten sollten. Die zweite Schulart müsste dementsprechend explizit, kompetent und professionell mit heterogenen Klassen arbeiten können und eng mit den Gymnasien kooperieren.

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Erstellt:
22.01.2018, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 4min 03sec
zuletzt aktualisiert: 22.01.2018, 01:00 Uhr

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