Sommer mit Gänsen – Folge 2

Ins Grüne (Kommet, kommet, kommet!)

Wie verläuft ein Gänseleben? Was passiert in der kurzen Zeit von der Geburt bis zum Tod eines solchen Nutztieres? In einer kleinen Serie begleiten wir eine Gänseherde auf dem Sophienhof in Lustnau.

25.08.2016

Von Jessica Sabasch

Schnell gewöhnen sich die Gänse an die Rohrtränke und stecken ihren Kopf ins Wasser.Bild: Sabasch

Schnell gewöhnen sich die Gänse an die Rohrtränke und stecken ihren Kopf ins Wasser.Bild: Sabasch

D er Mais auf den Feldern steht schon hoch, als es endlich soweit ist: Die Gänseküken dürfen zum ersten Mal auf die Weide. Mit drei Wochen sind sie groß genug, den warmen Stall ein paar Stunden zu verlassen. Aber unter Aufsicht, denn mit knapp 50 Zentimetern wären sie noch leichte Beute für Greifvögel.

Es ist ein sonniger Samstagvormittag Anfang Juli. Dieter Luik hat den betonierten Weg vor dem Gänsestall und einen schmalen Streifen der fußballfeldgroßen Wiese eingezäunt. Er wird den Zaun in den nächsten Wochen Stück für Stück erweitern, bis die Tiere die ganze Weide für sich haben. 224 Gänse verbringen den Sommer auf dem Lustnauer Sophienhof. Eine Freizeitbeschäftigung für Dieter Luik, der das Zusatzfutter für die Gänse selbst zusammenstellt, eine gutriechende Mischung aus Triticale (Kreuzung aus Weizen und Roggen), Mais, Hafer Ackerbohnen, Erbsen und Soja aus eigenem Bioland-Anbau. Noch bekommen die Gänschen hauptsächlich „Kükenstarter“. Die reichhaltige Getreidemischung versorgt sie in den ersten acht Wochen – der Phase des schnellen Wachsens – mit allen wichtigen Nährstoffen.

Luik kennt sich mit Geflügel aus, der gelernte Landwirt arbeitet hauptberuflich für das Hofgut Martinsberg in Rottenburg. Inhaber Joachim Schneider wurde für seine mobilen Hühnerställe mit dem Tierschutzpreis Baden-Württemberg ausgezeichnet und ist auch der Pächter des Sophienhofs, wo Familie Luik seit 2011 lebt. Bestellen kann man die Bio-Gänse zum Martinstag und für Weihnachten, direkt vom Hof oder in ausgewählten Geschäften. Alexandra und Dieter Luik kümmern sich neben ihrer Arbeit um die Tiere.

Am Bauch noch Küken,

am Rücken schon grau

Im Stall hört man die Gössel schon piepsen. Wenn die Bande drinnen losrennt, klingt es wie Trommelwirbel. Als Dieter Luik das schwere Tor öffnet, schauen die Kleinen aber erst mal misstrauisch. „Gänse tun sich schwer mit Veränderungen“, weiß Alexandra Luik aus der Erfahrung der letzten Jahre. Die sportliche Frau mit den kurzen braunen Haaren wartet schon auf der Wiese und macht den zaghaften Gänschen Mut: „Wo ist die Wiese? Kommet“, ruft sie mit sanfter Stimme. Etwas verloren stehen sie auf der Schwelle zwischen Stall und Hof. Dann siegt die Neugier. Eins nach dem anderen watschelt Richtung Wiese. Etwas wackelig, mit dem Schnabel voraus. Bei einzelnen Grasbüscheln werden Zwischenstopps eingelegt. Das neue Terrain muss erkundet werden. „Kommet, kommet, kommet, kommet“, ruft Dieter Luik mit tiefer Stimme. Von der Wiese aus ruft seine Frau „Kommet, kommet, kommet“.

Der Rhythmus und Klang des Gänserufs klingt fast wie Boy Georges Pop-Hit „Karma Karma Karma Karma Chameleon“ von 1983. Sicher ist: Er wirkt. Die 224 Gänschen sind zum ersten Mal in ihrem Leben draußen in der Welt, an der frischen Luft.

Wie sich das Gehen auf Asphalt für die kleinen Flossen wohl anfühlen mag? Vermutlich hart und unnachgiebig. Bisher sind die Gänsefüsschen nur das weiche Einstreu aus dem Stall gewohnt. „An ihrem Gang erkennt man, dass sie Weidetiere sind“, sagt Alexandra Luik. Die ersten Küken haben die Wiese erreicht und recken die Hälse. Sie werden ruhiger, als ob sie wüssten, dass sie ihr Ziel für heute erreicht haben. Manche breiten den Flügelansatz aus, den man unter dem nicht mehr ganz so dichten Flaum jetzt deutlich sieht. Am gelben Bauch sind sie eindeutig noch Küken; am Rücken sind sie grau und struppig.

Dieter Luik geht voraus zur Tränke, einem braunen, oben offenen Rohr, das über einen Schlauch mit der Wasserleitung des Hofs verbunden ist. Er plätschert mit den Fingern im Wasser, um den Küken zu zeigen, dass sie hier trinken können. Fünf sind hinter ihm stehen geblieben. Putzen sich mit den Schnäbeln die Bäuche. Der große Mann wirkt vor den kleinen Wesen gleich noch größer. Ein paar Nachzügler stehen noch wie angewurzelt im Hof und geben verzweifelte Fiep-Laute von sich. „Der Herdentrieb ist schon bei Gänseküken stark ausgeprägt“, weiß Alexandra Luik. „Ihr da hinten, was ist los? Kommet ganz schnell“, ruft sie. Währen die anderen Küken schon längst an Grashalmen knabbern, watschelt auch der Rest im Gänsemarsch los.

Und bald kommt

die Teenagerphase

Nach ein paar Tagen haben sie sich an den täglichen Gang zur Weide gewöhnt. Sie trinken aus der Tränke, als hätten sie nie etwas anderes gemacht. Sie strecken ihre Schnäbel ins Wasser und halten zum Schlucken ihre Hälse nach oben. „Solange sie Flaum haben, dürfen sie nicht nass werden“, erzählt Alexandra Luik. „Wenn sie Daunen haben, stellen wir Badewannen für sie auf.“ Der Liegestuhl, auf dem sie sitzt, ist von Gänsekindern umringt, noch suchen sie ihre Nähe. Schritt für Schritt werden sie bald flügge werden, distanzierter. „Bald kommt die Teenagerphase, wenn sie nicht mehr auf uns hören“, lacht sie.

Noch liegen die Küken entspannt im Gras. Manche mit nach hinten ausgestreckter Flosse und Kopf in den Flaum gesteckt. „Gänseyoga“, nennt es Alexandra Luik und streckt vorsichtig die Hand aus. „Wenn man sie am Kopf anfasst, kann man ihre kleinen Ohren fühlen.“