Wider die Erregung von Furcht

In den ersten 20 Jahren seiner Existenz musste das Kino in Tübingen hart um gesellschaftliche

Vor 100 Jahren öffnete mit dem Kinematographen-Theater Metropol das erste Tübinger Kino die Pforten. Elf weitere Filmtheater haben die Bewohner der Unistadt seitdem kommen und die meisten davon wieder gehen sehen. In den nächsten Monaten lassen wir die lokale Kinohistorie von den Anfängen bis zur Gegenwart Revue passieren. Erste Folge: die Ära des Stummfilms.

28.02.2012

Von Klaus-Peter Eichele

Das erste Tübinger Kino

Das erste Tübinger Kino

"Hoffentlich findet das Unternehmen die nötige Unterstützung", bangte die Lokalzeitung Tübinger Chronik, als Josef Mayer mit der Eröffnung des "Kinematographen-Theaters Metropol" am 5. Dezember 1908 die Kinoära in der Universitätsstadt einläutete. Der aus Kirchheim/Teck stammende Kinopionier hatte bereits Filmvorführungen auf dem Exerzierplatz vor der Thiepval-Kaserne organisiert, ehe er in die festen vier Wände des ehemaligen Ludwigsbads an der Ecke von Mühlstraße und Neckargasse (damals: Neckarstraße) zog. Nur 13 Jahre nach der öffentlichen Feuertaufe der "siebten Kunst" in Paris und Berlin wusste wohl nicht jeder Tübinger, was ihn dort genau erwartete. "Vorführung lebender Photographien", hieß es daher anschaulich in der Zeitungsannonce.

Im etwas kleiner Gedruckten der Anzeige nannte Mayer sein Etablissement ein "belehrendes Institut" - vermutlich, um sich von den Kirmesbuden abzusetzen, in denen die bewegten Bilder in ihren Flegeljahren vorwiegend beheimatet waren. Gelogen war das nicht. Neben dem Unterhaltungsbedürfnis wurde im "Metropol" durchaus auch der Informa­tionshunger gestillt. Zu den kurzen, in der Anfangszeit kaum zehn Minuten langen Grotesken, Krimis und "Sensationsdramen" gesellten sich Natur- und Kulturfilme und sogar nachrichtliche Beiträge. Im Auftaktprogramm gab es etwa Aufnahmen von der Trauerfeier nach dem Grubenunglück in Hamm, wo im November 1908 350 Bergleute ums Leben gekommen waren. Ein paar Wochen später wurde der "Unfall des Zeppelins bei Göppingen" dokumentiert.

Oft ging die Kino-Reise in ferne Länder, zur "Baumwollernte am Nil", zur Gondelfahrt in Venedig" oder zur "Seehundjagd im nördlichen Eismeer". So erschloss sich dem Tübinger, für den bis dato selbst unbelebte Fotografien eine Seltenheit waren, nach und nach die weite Welt. Ein paar Jahre später waren die informativen Streifen bereits zu einer Wochenschau verzurrt. 1912 firmierte sie als "Wochenbericht des Lichstpielhauses - Neueste Weltereignisse, Mode, Sport, Wissenschaft". Stammgast in diesem frühen Boulevardmagazin war Kaiser Willhelm höchstpersönlich, der fast jeden seiner öffentlichen Auftritte auf Zelluloid bannen ließ. Als 1914 der erste Weltkrieg ausbrach, bemächtigte sich prompt die Propaganda des neuen Mediums. Alle paar Tage gab es einen neuen "militäramtlichen Film" über die "Anfertigung von Handgranaten" oder den "Höllenkampf an der Aisne". Auch mit Spielfilmen wurde schon Stimmung gemacht. So schilderte das 1918 im Metropol gezeigte anti-russische Epos "Sibirien" (1918) laut Zeitungsanzeige "verderbte Polizeigewalt, Folter wehrloser Frauen" im Hinterland des Feindes.

Im Gründerjahr 1908 war dagegen alles noch unschuldig. Zur Premiere im Metropol gab es ein bunt gemischtes Programm von der Reportage über "Bananen-Pflanzungen" bis zum "sensationell spannenden" Detektivfilm "Nick Carter". Nach jedem der sechs noch von Hand durch den Projektor gekurbelten Stummfilme durfte neues Publikum hinein. Der Eintrittspreis lag zwischen 30 (Kinder und Militär) und 80 Pfennigen. Die Musik kam anfangs aus einem elektrisch betriebenen "Orchestrion". Später wurde von einem Pianisten und gelegentlich einem Geiger live musiziert. Bei besonderen Anlässen kam auch mal ein kleines Orchester zum Einsatz.

Sollte dem Kino damals noch der Ruch des Ordinären angehaftet haben, so ließ sich die Lokalzeitung davon nichts anmerken. „Die Vorstellungen können durchweg als wohlgelungen bezeichnet werden“, resümierte nach einer Woche die Tübinger Chronik. "Die gezeigten Bilder waren wunderbar schön, deutlich und vollständig flimmerfrei." Auch das Kino selbst machte Eindruck: "Ein solch aufs Beste und Bequemste eingerichetetes Etablisse­ment finden wir in mancher Großstadt nicht", verkündete die Lokalzeitung mit stolz geschwellter Brust.

Trotz dieses quasi-offiziellen Ritterschlags dürften dem Metropol, das 1915 in Tübinger Lichtspielhaus (TüLi) umbenannt wurde, in der Anfangszeit vor allem die unteren Schichten zugeströmt sein. Das Geschäft lief gleichwohl so gut, dass im Sommer 1919 mit den Kammerlichtspielen (KaLi) am Haagtor ein zweites Tübinger Kino die Pforten öffnete. Die beiden Besitzer lieferten sich fortan einen knallharten Kampf ums Publikum, der unter anderem mit immer blutrünstigeren Filmen ausgetragen wurde. Protzte KaLi-Chef Robert Metzger mit "Die Welt der Bestien", so schockte TüLi-Mayer die Woche darauf mit "Die Tochter des Henkers".

Das Bürgertum, zumindest das gebildete, hielt sich davon lieber fern. Mehr noch: In konservativen und kirchlichen Kreise entwickelte sich eine erbitterte Feindschaft zu den bewegten Bildern, zumindest in ihrer real existierenden Ausprägung. Einer der deutschlandweit agilsten Aktivisten dieser Bewegung war der Tübinger Kunstprofessor Konrad Lange. Bereits 1912 hatte der Nationalkonservative rund 500 Tübinger, darunter sämtliche Schulleiter, zu einer Protestversammlung zusammengetrommelt, auf der die "Ausmerzung der Schundfilms" und die "Einrichtung einer zentralen Zensurbehörde zum Schutze der Jugend" gefordert wurde.

Zwar betonte Lange immer wieder, dass er kein prinzipieller Gegner des Kinos sei. Tatsächlich traf sein professoraler Bannstrahl jedoch nahezu alles, was in den Lichtspielhäusern zu sehen war. Besonders sauer stießen ihm die mittlerweile schon bis zu einer Stunde langen Spielfilme auf, denen er wahlweise Sensationsgier, geistlose Komik, sexuelle Aufreizung und "die Erregung von Furcht und Entsetzen" unterstellte. Kurzum: Im Kino werde das Volk verdummt und verroht statt geistig veredelt. Gelten ließ Lange, dessen Kunstauffassung ansonsten recht fortschrittlich war, allenfalls "Landschaften, Städtebilder, Darstellungen fremder Völker und Tagesereig­nisse".

Als nach dem Ende des Kaiserreichs stattdessen die Zensur etwas gelockert wurde und Filme frivoleren Inhalts ("Der Weg, der zur Verdamm­nis führt") massenhaft an die Leinwände drängten, kam es vollends zum Eklat. Die ausgehängten Bilder zum Film "Sünden der Eltern", darunter eine Gruppe Cancan-tanzender Mädchen, veranlasste den evangelischen Dekan Faber 1919 im Lokalblatt zu einem Rundumschlag wider die Schamlosigkeit der Kinematografie, "mit welcher unsere Jugend systematisch vergiftet wird".

Auch Lange meldete sich mehrfach in der Zeitung zu Wort, beklagte bitter die "moralische Verwilderung des Kinos", die seit der Revolution eingerissen sei: "Wenn die jungen Leute mit solchen sexuellen Anreizungen verderbt werden, wie soll dann unser Volk je wieder hochkommen?" Zur Abwehr der "hygienischen und ethischen Gefahren" schlug er vor, die Lichtspielhäuser zu verstaatlichen. Nur so könne "alles Zweideutige und Aufregende entfernt und der Schwerpunkt auf anständige Unterhaltung und besonders auf die Belehrung" gelegt werden. Die Tübinger Kinobetreiber quittierten diesen Frontalangriff auf das freie Unternehmertum mit einem Hausverbot für den Professor.

Für seinen Feldzug wider den "schwersten Schädling unserer Kultur" erntete Konrad Lange zwar manches Schulterklopfen gleich gesinnter Honoratio­ren. Erfolg hatte die Kampagne freilich nicht. Denn weder das Publikum noch die mächtig gewordene Filmindustrie dachten im Traum daran, sich von einem moralinsauren älteren Herrn (der 1921 gestorbene Lange war damals schon über 60) den Spaß beziehungsweise das Geschäft verderben zu lassen. Zudem ebbte die Welle der "Skandal"-Filme mit Mord und Mädchenhandel bald von alleine wieder ab.

In den zwanziger Jahren war das Kino zumindest hin und wieder bemüht, sich als Kunst zu gerieren. Es entstanden die bekannten Meisterwerke vom "Cabinet der Doktor Caligari" (1919) über "Nosferatu" (1921) bis "Metropolis" (1927). Ehrwürdige Literatur wie Goethes "Faust" (1926) und Thomas Manns "Buddenbrooks" (1923) fand den Weg auf die Leinwand. Analog zum Theater wurden viele Filme mit den Namen der Schauspieler beworben, von denen einige zu Stars aufstiegen: Asta Nielsen, Pola Negri, Harry Piel, aber auch von der Bühne bekannte Charaktermimen wie Albert Bassermann und Fritz Kortner.

So fanden nach und nach auch die besseren Kreise Gefallen am Lichtspiel. Als Tübingens Kinopionier Josef Mayer im März 1928 das TüLi an der Neckarbrücke dichtmachte und im komplett umgebauten Festsaal des Gasthofs Hirsch ein neues, topmodernes Filmtheater eröffnete, war das ein gesellschaftliches Großereignis, das sich kaum ein örtlicher Würdenträger entgehen lassen wollte. Zum Auftakt lief vor geladenen Gästen das Bergsteigerepos "Der heilige Berg" mit Luis Trenker und Leni Riefenstahl, eine der größten und teuersten deutschen Filmproduktionen dieser Zeit. Das eigentliche Ereignis war aber zweifellos das Etablissement selbst, das die "Tübinger Chronik" in den Rang einer lokalen "Sehenswürdigkeit" erhob: "Tübingen darf sich freuen, ein so großes, vornehmes und neuzeitlich zweckmäßig eingerichtetes Lichtspieltheater zu besitzen." 500 Menschen fanden darin Platz, davon 100 auf der neu eingezogenen Galerie. Der Clou war eine in die Decke eingelassene Lichtkuppel, von der 80 Lampen den Kinosaal vor jeder Vorstellung in allen Farben anstrahlten.

In seiner Ansprache ließ der stolze Besitzer durchblicken, dass der einstmals verruchte Kintopp inzwischen Anerkennung auf höchster Ebene gefunden hatte. "Der Film ist die einzige internationale Sprache und das erste Mittel der Verständigung zwischen den Völkern", zitierte er den früheren Reichskanzler Gustav Stresemann. Weltsprache war das Kino freilich nur so lange, wie von der Leinwand nicht gesprochen wurde. Doch diese Ära neigte sich dem Ende zu. Bereits im Jahr vor der Hirsch-Eröffnung, 1927, hatte in den USA der erste Tonfilm Premiere. Auf die beiden Tübinger Kinos kamen neue Herausforderungen zu.

Zum Artikel

Erstellt:
28.02.2012, 12:00 Uhr
Lesedauer: ca. 5min 54sec
zuletzt aktualisiert: 28.02.2012, 12:00 Uhr

Artikel empfehlen

Artikel Aktionen

Sie möchten diesen Inhalt nutzen? Bitte beachten Sie unsere Hinweise zur Lizenzierung.

Push aufs Handy

Die wichtigsten Nachrichten direkt aufs Smartphone: Installieren Sie die Tagblatt-App für iOS oder für Android und erhalten Sie Push-Meldungen über die wichtigsten Ereignisse und interessantesten Themen aus der Region Tübingen.

Newsletter


In Ihrem Benutzerprofil können Sie Ihre abonnierten Newsletter verwalten. Dazu müssen Sie jedoch registriert und angemeldet sein. Für alle Tagblatt-Newsletter können Sie sich aber bei tagblatt.de/newsletter auch ohne Registrierung anmelden.
Das Tagblatt in den Sozialen Netzen
    
Faceboook      Instagram      Twitter      Facebook Sport
Newsletter Wirtschaft: Macher, Moneten, Mittelstand
Branchen, Business und Personen: Sie interessieren sich für Themen aus der regionalen Wirtschaft? Dann bestellen Sie unseren Newsletter Macher, Moneten, Mittelstand!