200 Jahre Fahrrad · Ein Paradies für alle Tüftler

In Tübingen gibt es ein vielfältiges Angebot an alternativen Fahrradwerkstätten

Es ist einer der ersten lauen Frühlingsabende, draußen zwitschern die Vögel, im ehemaligen Munitionsgebäude hört man das Klickern rotierender Räder, Klopfen, Pumpen und Schrauben.

07.04.2017

Von Lisa Heiberger

Im Fahrradies in der Schellingstraße wird jeden Montag an Fahrrädern geschraubt und getüftelt, bis sie wieder fahrtüchtig sind. Bild: Metz

Im Fahrradies in der Schellingstraße wird jeden Montag an Fahrrädern geschraubt und getüftelt, bis sie wieder fahrtüchtig sind. Bild: Metz

Jeden Montagabend von 17.30 bis 21 Uhr verwandelt sich das Fahrradies in der Schellingstraße zu einem paradiesischen Ort für alle Tüftler, die das Handwerkliche mit dem Sozialen verbinden wollen. Jedem ein fahrtüchtiges Fahrrad ermöglichen, gemeinsam schrauben, Spaß haben und dazu lernen – das ist das Konzept alternativer Fahrradwerkstätten in Tübingen.

Entstanden ist das Fahrradies vor etwa drei Jahren als Selbsthilfe-Fahrradwerkstatt. Nur wenige Monate später hat sich daraus das Schwesterprojekt „Fahrräder für Flüchtlinge“ entwickelt, eine eigenständige Untergruppe des Freundeskreis Asyl Schellingstraße. Zunächst war das Ziel die Versorgung der Geflüchteten in der Unterkunft Schellingstraße 9-11. Eine große Herausforderung, die die Gruppe gemeistert hat. Mittlerweile engagieren sich neben den zehn Aktiven auch Geflüchtete im Fahrradies.

Durch Spenden wurde ein Grundstock an Material gestellt, manche Einzelteile müssen im Einzelfall auch selbst gekauft werden. Die Finanzierung der Gerätschaften wird weitgehend durch die Einnahmen gestemmt: Pro Fahrrad wird ein symbolischer Wert von zehn Euro verlangt, bei Kinderrädern sind es fünf Euro. „Am Anfang war es kostenlos, aber wir haben gemerkt, dass das ein falsches Signal ist“, sagt Bodo Kleinfeldt, einer der Aktiven im Fahrradies. Es sei wichtig, dass ein Verständnis für das einzelne Objekt und für Nachhaltigkeit im Allgemeinen entwickelt werde. Am besten gelinge das durch die aktive Mithilfe beim Instandsetzen.

Trotz solidem Grundstock „gibt es aber immer Bedarf“, sagt Kleinfeldt. Vor allem freue man sich über gespendete Räder. Auch größere Anschaffungen wären hilfreich, so etwa eine Rohrbiegemaschine oder ein Schweißgerät. Insgesamt freue sich das Team immer über Leute, die mitmachen wollen: „Das ist das Herzstück von allem.“

Das Fahrradies versteht sich „nicht als Service oder Konkurrenz zu den konventionellen Händlern.“ Intention ist vielmehr der Nachhaltigkeitsgedanke und „dass Leute, die wenig Geld haben, ein funktionstüchtiges Fahrrad bekommen“, so Kleinfeldt. Denn man habe gelernt, dass durch Überfluss schnell eine „Ex-und-Hopp-Mentalität“ entstehe.

Auch das Werkstadthaus im Französischen Viertel, das seit 2002 existiert, hat ein ähnliches Konzept. Neben vielfältigen Angeboten gibt es jeden Montagabend von 18 bis 21 Uhr eine offene Fahrradwerkstatt.

Der Andrang sei je nach Jahreszeit unterschiedlich hoch. Die meisten verlassen die Werkstatt „unter zehn Euro“, dafür aber mit großem Gewinn: Neben dem reparierten Fahrrad haben „sie mehr Verständnis für das Material, mehr Bezug zum Gegenstand bekommen. Es handelt sich nicht um passives Konsumieren, sondern um aktives Auseinandersetzen“, sagt Martin Weiß, ehrenamtlich im Werkstadthaus, hauptamtlich bei TransVelo in Reutlingen beschäftigt. Darin sehe er aber keinen Widerspruch: Zwar biete das Werkstadthaus einiges an Verschleißteilen, häufig müsse aber fehlendes Material gekauft werden, möglichst bei städtischen Fahrradläden, nicht im Internet. Nach einer ersten Inspektion können die meisten Mängel aber gleich behoben werden. Wer die Werkstatt nutzt, zahle sieben, ermäßigt fünf Euro.

Dieses Konzept ist nicht nur praktisch, sondern auch idealistisch. Denn „statt gleich Neues zu kaufen, kann der kapitalistischen Wirtschaftslogik etwas entgegengesetzt werden“, sagt Weiß.

Weitere ehrenamtliche Fahrradwerkstätten

Die Landschaft an alternativen Fahrradwerkstätten in Tübingen und Umgebung ist vielfältig. So gibt es zum Beispiel auch die Initiative „Gepäckträger“ in der Jugendhilfestation Nord (Weidenweg 14), die von Jugendlichen gegründet wurde. Jeden zweiten und vierten Freitag im Monat von 14.30 bis 17 Uhr können hier alle ihr Fahrrad kostenlos reparieren (lassen). Ersatzteile gibt es zum Einkaufspreis.

In Weilheim gibt es seit 2016 eine mobile Fahrradwerkstatt. Mit einem Lastenfahrrad werden Gemeinschaftsunterkünfte im näheren Umkreis angesteuert, um vor Ort Fahrräder wieder instand zu setzen. Auch gespendete Fahrräder und Ersatzteile werden zur Verfügung gestellt. Zentral ist hierbei das aktive Mitwirken bei der Reparatur.

Zum Dossier: 200 Jahre Fahrrad

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Erstellt:
07.04.2017, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 49sec
zuletzt aktualisiert: 07.04.2017, 01:00 Uhr

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