Wachsen – aber wo?

In Tübingen gehen die Flächen für Wohnen und Gewerbe aus

Bei wie vielen Einwohnern ist Schluss, wo soll noch gebaut werden, was ist mit der Expansion des Uniklinikums, soll der Au-Brunnen fürs Gewerbe geopfert werden? Über diese Fragen diskutierten am Dienstag Klinikumschef und Baubürgermeister, Naturschützerin, Ortsvorsteher und Wirtschaftsförderer.

24.03.2016

Von Volker Rekittke

Das Güterbahnhof-Areal ist eine der letzten bebaubaren innerstädtischen Flächen Tübingens. Bild: Metz

Das Güterbahnhof-Areal ist eine der letzten bebaubaren innerstädtischen Flächen Tübingens. Bild: Metz

Tübingen. „Ende Gelände – kann Tübingen noch wachsen?“ fragte die Tübinger Liste – und deutlich über 100 Interessierte, darunter etliche Stadträte, kamen ins „Lamm“ am Marktplatz, um bei den „Tübinger Themen“ zuzuhören und mitzudiskutieren.

Zunächst präsentierte der Oldenburger Architekt und Stadtplaner Daniel Fuhrhop Thesen aus seiner Streitschrift „Verbietet das Bauen!“ Mancherorts gehöre das Wohnungstausch-Management „zum ganz normalen Mieterservice“ kommunaler Wohnungsgesellschaften, wenn etwa Senioren aus ihrer zu großen und die wachsende Familie aus ihrer zu kleinen Wohnung ausziehen wollten. Und vor allem boomende Städte wie Tübingen sollten ihr Leerstandsproblem angehen, so Fuhrhop.

Da wollte Tübingens Baubürgermeister Cord Soehlke gar nicht widersprechen. 81 Eigentümer leerstehender Häuser habe die Stadt gerade angeschrieben, viele zum wiederholten Male. Zwei Drittel antworteten. Soehlke glaubt, dass am Ende 30 bis 40 Häuser wieder zurück auf den Wohnungsmarkt kommen könnten.  Und wegen der zahlreichen leeren Wohnungen schrieb Soehlke gerade einen Brief, der an die 3000 „Haus&Grund“-Mitglieder in Tübingen verschickt wird.

Bei welcher Einwohnerzahl ist in Tübingen „Ende Gelände“? „Tübingen ist so attraktiv, dass wir auch das Potenzial für 120 000 bis 130 000 Menschen haben“, sagt Soehlke. „Wenn wir die Flächen hätten.“ Nach Güterbahnhof, Foyer, Wennfelder Garten, demnächst den Baugebieten in den Teilorten und etlichen kleineren Projekten wie dem Zoo stoße die Innenentwicklung spätestens 2022 an Grenzen. Dann dürfte der Startschuss für den Saiben fallen, die letzte große Außenfläche fürs Wohnen am Rande der Tübinger Kernstadt. Bei 93 000 bis 95 000 Einwohnern – derzeit sind es 86 000 – sieht Soehlke die Grenze. „Es ist nicht unser Ziel, die 100 000 Einwohner zu erreichen.“ Immerhin, so Soehlke: „Tübingen ist 25 Jahre gewachsen, ohne zu wachsen“ – nur in der Einwohnerzahl, nicht in die Fläche.

Beim Thema „bezahlbares Wohnen“ waren sich Soehlke, Klinikums-Chef Michael Bamberg und die UKT-Personalratsvorsitzende Angela Hauser einig. „Wir haben ein großes Problem mit Wohnraum für unsere Beschäftigten“, so Bamberg. Das Klinikum wachse, man suche dringend neue Mitarbeiter/innen. Neue Wohnungen könnten in Kliniknähe, etwa an der Sarchhalde entlang der Schnarrenbergstraße, entstehen. Auf dem UKT-Gelände am Schnarrenberg würden neue Forschungs- und Klinikgebäude in den nächsten 15 Jahren verdichtet gebaut. Derzeit werde nicht etwa raumfressend neu gebaut, dann umgezogen und im Bestandsbau in Ruhe renoviert: Auf vielen Crona-Stationen werde vielmehr bei laufendem Betrieb modernisiert und der Brandschutz erneuert – für Patienten wie Beschäftigte eine beträchtliche (Lärm-)Belastung.

Auch in den Tübinger Teilorten will man platzsparend bauen. Zwar wolle auch Hagelloch mit seinen 1800 Einwohnern wachsen, so Ortsvorsteher Martin Lack. Doch das nicht nur mit Doppel- und Reihenhäusern: „Wir wollen den Geschosswohnungsbau einführen.“

Solch neue Töne aus den Teilorten vernahm die Tübinger BUND-Geschäftsführerin Barbara Lupp mit Wohlgefallen. Zugleich bezweifelte sie, dass tatsächlich jeder Tübinger Teilort ein neues Wohngebiet braucht: „Macht man das nur wegen des Proporzes?“ Insgesamt befürchtete die Umweltschützerin, nach früheren Äußerungen von OB Boris Palmer etwa zu Gewerbeflächen, für Tübingen „einen Dammbruch beim Flächenverbrauch“.

„Wie kann es sein, dass die Stadt mit dem Klinikum auf den Schnarrenberg um jeden Quadratmeter feilscht – und gleichzeitig den Au-Brunnen als Gewerbefläche ins Spiel bringt?“, hakte ein Besucher nach. Das Au-Areal ist immerhin gut zwölf Hektar groß. Vielmehr solle man auf Nachverdichtung etwa im Gewerbegebiet Unterer Wert achten, auch der Wirtschaft keine Flachbauten mehr genehmigen.

Das sei „ein spannendes Thema“, antwortete Soehlke – und gab an Wirtschaftsförderer Thorsten Flink weiter: „Es wird eng auf dem Tübinger Markt für Gewerbeflächen“, sagte der. Im Derendinger Steinlachwasen habe man den Bebauungsplan geändert, die Firma Horn durfte stark in die Höhe bauen. Doch selbst dieses „Gewerbestapeln“ stoße nun bald an Grenzen. Wenn man hiesige Boom-Firmen in der Stadt halten wolle, so Flink, müsse man sich der Debatte um neue Gewerbegebiete stellen.

„Stadt ist mehr als Beton und Asphalt“

„Wie soll unsere Stadt in zehn, zwanzig Jahren oder 2050 aussehen? Weichen, die heute gestellt werden, bestimmen

das Leben der nächsten Generationen“, heißt es in der Einladung der Tübinger Liste. Deren Vereinsvorsitzender Reinhard von Brunn begrüßte am Dienstag die Besucher/innen – indem er aus einer Mitteilung des BUND zitierte: Der tägliche Flächenverbrauch in Deutschland liegt bei etwa 100 Hektar, heißt es da. Zwölf Quadratmeter in jeder Sekunde, 100 Fußballplätze am Tag und jedes Jahr ein Gebiet so groß wie zwei Drittel des Bodensees würden hierzulande zugebaut, betoniert oder geteert.

Am Ende der Veranstaltung zog Reinhild von Brunn für die Veranstalter auch dieses Fazit: „Stadt ist mehr als Beton und Asphalt“ – Stadt sei auch Grün und Spielplatz, Schule und Kindergarten, öffentlicher Raum für alle, sagte sie.

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Erstellt:
24.03.2016, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 21sec
zuletzt aktualisiert: 24.03.2016, 01:00 Uhr

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