Tübingen

Impfnebenwirkungen sollten besser erfasst werden

Ein Rottenburger Kardiologe beobachtet bei seinen Patienten eine auffällige Häufung von Nebenwirkungen nach Corona-Impfung. Auch beim Krankenhaus-Portal InEK stiegen die Meldungen deutlich an.

24.02.2022

Von Volker Rekittke

Der kleine Piks hat in den vergangenen Monaten für viele Diskussionen gesorgt. Nun sollen die Nebenwirkungen der Impfung besser erfasst werden. Bild: Ulrich Metz

Der kleine Piks hat in den vergangenen Monaten für viele Diskussionen gesorgt. Nun sollen die Nebenwirkungen der Impfung besser erfasst werden. Bild: Ulrich Metz

Der Rottenburger Kardiologe Christian Eick beobachtet bei seinen Patienten seit vergangenem Sommer eine auffällige Häufung von kardiologischen und immunologischen Nebenwirkungen nach Corona-Impfung. In seiner Praxis sei die Rate an Neupatienten nach einem Herzinfarkt wie auch nach einem Schlaganfall deutlich angestiegen: „Bei vielen Patienten handelt es sich um keine typischen Infarktpatienten, sie sind eher jünger, haben wenige oder gar keine Risikofaktoren.“ Auch sei ihm aufgefallen, „dass ich in letzter Zeit deutlicher häufiger eine Herzschwäche im Ultraschall diagnostiziere. Die Diagnose einer neuen Herzschwäche hatte ich früher vielleicht einmal pro Woche gestellt, jetzt mehrfach die Woche.“ Mehr als 120 ungewöhnlicher, schwerwiegender Fälle nach Impfung registrierte der Kardiologe seit Mitte 2021 - Dutzende meldete er an das Paul-Ehrlich-Institut (PEI), ohne je eine Rückfrage oder auch nur Eingangsbestätigung bekommen zu haben.

Das TAGBLATT fragte beim PEI nach, wann Ärzte eine Nebenwirkung melden sollen: Immer dann, wenn sie vermuten, dass es einen Zusammenhang zur Impfung geben könnte? Und nur solche Nebenwirkungen, die für den Impfstoff bereits beschrieben sind - oder alles, was ihnen seltsam vorkommt?

Verdachtsfälle laufen in eine Datenbank ein

„Jeder Verdacht sollte gemeldet werden“, sagt dazu Susanne Stöcker von der Pressestelle des Paul-Ehrlich-Instituts: „Die Bewertung, ob es möglicherweise einen Zusammenhang mit der Impfung geben könnte oder nicht, ob sich ein Hinweis auf ein Risikosignal ergibt oder nicht, ist Aufgabe des Referats Arzneimittelsicherheit des Paul-Ehrlich-Instituts, nicht des oder der Meldenden.“ Alle eingehenden Verdachtsfallmeldungen würden „medizinisch plausibilisiert“ und dann in die Datenbank aufgenommen.

Christian Eick indes findet es „problematisch, wie wenig standardisiert wir Nebenwirkungen erfassen“ - und wie sehr zunächst die subjektive Einschätzung des Arztes zähle, was zu melden ist. Zudem sei jede dieser Meldungen mit einem beträchtlichen Zeitaufwand verbunden. Vergütet wird dieser Mehraufwand ohnehin nicht.

Eine Abfrage des TAGBLATT beim Datenportal des Instituts für das Entgeltsystem im Krankenhaus (InEK) nach Impfnebenwirkungen ergab: 2020, als es noch keine Impfungen gegen Corona gab, wurden insgesamt 1475 Fälle erfasst. 2021, als dann gegen Corona geimpft wurde, waren es 24.975 Fälle von an Kliniken erfassten Impfnebenwirkungen - rund 17 Mal mehr als 2020. Nach Auskunft der Kassenärztliche Vereinigung (KV) Westfalen-Lippe (keine andere KV, das PEI oder das RKI konnten ansonsten Daten liefern) wurden 2020 in ihrem Bereich insgesamt rund 3,1 Millionen Impfungen vorgenommen, die über die KV abgerechnet wurden. 2021 waren es nach vorläufigen Zahlen etwa dreimal so viele.

„Eine zeitliche Korrelation bedeutet noch keine Kausalität.“

Zum Thema Impfnebenwirkungen sowie zu der vom Statistischen Bundesamt für September bis Dezember 2021 gemeldeten deutlichen Übersterblichkeit befragte das TAGBLATT den Virologen und Epidemiologen Klaus Stöhr, der von 1992 bis 2007 bei der Weltgesundheitsorganisation (WHO) unter anderem das Globale Influenza-Programm leitete. Man müsse bei der Interpretation der Übersterblichkeitszahlen über einen kurzen Zeitraum vorsichtig sein, so Stöhr: „Eine zeitliche Korrelation bedeutet noch keine Kausalität.“ Allerdings müssten auch jene Hypothesen überprüft werden, die eine Übersterblichkeit gerade jüngerer Menschen im zeitlichen Zusammenhang mit Corona-Impfungen vermuten. Stöhr regt an, repräsentative Studien durchzuführen um eine mögliche Kausalität nachzuweisen - auch im Zusammenhang mit der Vermutung, dass „Thrombosen nach den Boostern bei jüngeren Jahrgängen“ häufiger auftreten könnten.

Derweil meldet die Krankenkasse BKK ProVita in einem Brief an das für die Erfassung der Impf-Nebenwirkungen zuständige Paul-Ehrlich-Institut massive Zweifel an den offiziellen Daten an. Es sei eine „sehr erhebliche Untererfassung“ bei den Impf-Nebenwirkungen anzunehmen, heißt es im Brief an PEI-Präsident Prof. Klaus Cichutek. DIE BKK wertete im Datenbestand der Betriebskrankenkassen für rund 11 Millionen Versicherte für Teile des Jahres 2021 die Codes für Impfnebenwirkungen aus und sprach von einem „erheblichen Alarmsignal“: „Wenn diese Zahlen auf das Gesamtjahr und auf die Bevölkerung in Deutschland hochgerechnet werden, sind vermutlich 2,5-3 Millionen Menschen in Deutschland wegen Impfnebenwirkungen nach Corona Impfung in ärztlicher Behandlung gewesen.“ Hochgerechnet auf die Anzahl der geimpften Menschen in Deutschland bedeute dies, „dass circa 4-5 Prozent der geimpften Menschen wegen Impfnebenwirkungen in ärztlicher Behandlung waren“, so Andreas Schöfbeck vom BKK-Vorstand.