Wie Tübingen noch blauer wird

Solarzellen entlang der Bundesstraße und kommunale Steuern auf Plastikmüll

Was Boris Palmer nach dem Climate Summit alles angehen will, um den Tübinger Beitrag zum Klimaschutz weiter zu erhöhen.

20.09.2018

Von Ulrich Janßen

Das Schloss hat (noch?) ein rotes Dach, doch auf dem Landratsamt sammeln seit 2005 schon viele blaue Solarmodule die Energie der Sonne. 114 Kilowatt leisten die Zellen auf den zwei Dächern, was sich pro Jahr auf bis zu 125000 Kilowattstunden summiert. Tübingens stärkste Anlage betreiben die Stadtwerke: Die Zellen auf dem Dach ihres Zentrallagers bringen es auf 204 Kilowatt und 184000 Kilowattstunden jährlich. Archivbild: Sommer

Das Schloss hat (noch?) ein rotes Dach, doch auf dem Landratsamt sammeln seit 2005 schon viele blaue Solarmodule die Energie der Sonne. 114 Kilowatt leisten die Zellen auf den zwei Dächern, was sich pro Jahr auf bis zu 125000 Kilowattstunden summiert. Tübingens stärkste Anlage betreiben die Stadtwerke: Die Zellen auf dem Dach ihres Zentrallagers bringen es auf 204 Kilowatt und 184000 Kilowattstunden jährlich. Archivbild: Sommer

Wenn man ihn fragt, welche Ideen aus San Francisco er in Tübingen als erstes umsetzen möchte, muss Boris Palmer nicht lange überlegen: „Was mich in Kalifornien am meisten beeindruckt hat, war der Elan beim Ausbau der Photovoltaik“, sagte er gestern dem TAGBLATT. Die Nutzung der Sonnenenergie war eines der ganz großen Themen auf dem „World Climate Action Summit“ in San Francisco gewesen. Auf der internationalen Konferenz hatte Palmer am Wochenende die „Tübingen macht blau“-Kampagne vorgestellt (wir berichteten). Trotz Donald Trumps Vorliebe für fossile Brennstoffe werde in den USA, beobachtete Tübingens Oberbürgermeister, derzeit „gigantisch“ in Solarzellen investiert.

Nach der Rückkehr habe er deshalb gleich mit den Umwelt- und Wirtschaftszuständigen in der Verwaltung überlegt, wie man „dieses Riesenpotenzial“ auch in Tübingen besser ausschöpfen könne. Weil die Preise für Solarmodule gerade drastisch sinken (um 25 Prozent), wird die Nutzung der Solarenergie nach Palmers Einschätzung in Zukunft auch ohne staatliche Förderung wirtschaftlich attraktiv. Seit der Reform des Erneuerbare-Energien-Gesetzes von 2017 müssen Solarunternehmer auf einer Art Auktion ihren Förderbedarf anmelden. Je weniger Förderung sie beanspruchen, desto größer ist ihre Chance auf einen Zuschuss.

Platz für Solarzellen sieht Palmer vor allem auf den Dächern von Lager- und Produktionshallen. „Wir werden“, kündigte der Oberbürgermeister an, „den Unternehmensführungen vorrechnen, dass sich das lohnt.“ Zusätzlich will Palmer auch auf unbebauten Flächen verstärkt Möglichkeiten für Photovoltaik schaffen. Die Voraussetzungen dafür hat das Land Baden-Württemberg vor einem Jahr mit der „Freiflächenöffnungsverordnung“ geschaffen.

Kommunen können danach geeignete Acker- und Grünlandflächen per Flächennutzungs- oder Bebauungsplan für die Photovoltaik freigeben. Palmer kann sich unter anderem vorstellen, entlang der neuen Trasse der B 28 Solarmodule zu installieren. „Das geht auf acht bis zehn Kilometer Länge“, sagte der Oberbürgermeister. Ein Streifen entlang der Bundesstraße würde nach Palmers Einschätzung weder die Interessen der Landwirtschaft noch die des Natur- und Landschaftsschutzes beinträchtigen.

„Think big“: Auch dieses amerikanische Prinzip nahm Palmer aus Kalifornien mit: „Man muss einfach größer denken, wenn es um den Klimaschutz geht“, erklärte er. Mal eben 15 Millionen Euro für Radwege lockerzumachen oder 40 Millionen für die Stadtbahn, das habe er sich früher nicht getraut. Es sei aber nötig, um die Klimaziele zu erreichen. Und die sind, allen Erfolgen zum Trotz, noch längst nicht erreicht: Gut fünf Tonnen CO2 verbraucht der Durchschnittstübinger pro Jahr, klimaverträglich sind nur zwei Tonnen.

Der Straßenverkehr ist in Deutschland für knapp 20 Prozent der CO2-Emissionen verantwortlich. Ein Anteil, der sich in den vergangenen Jahrzehnten kaum verringert hat. Anders in Kalifornien: „In San Francisco“, beobachtete Palmer, „stehen an jeder Straßenecke 50 Leihräder.“ Und Los Angeles will zusammen mit anderen Städten 10.000 Elektro-Busse bestellen: „Das reduziert natürlich die Emissionen.“

Verschmutzen nicht nur die Meere: Einwegverpackungen. Archivbild: Metz

Verschmutzen nicht nur die Meere: Einwegverpackungen. Archivbild: Metz

Auch in Tübingen möchte Palmer deshalb noch mehr Leihräder und Elektroroller auf den Straßen sehen. Weniger überzeugt ist der Oberbürgermeister dagegen von den aufregenden Ideen, mit denen kalifornische Internet-Unternehmen (und europäische Autohersteller) gerade weltweit die Mobilität revolutionieren wollen. Mit Elektrofahrzeugen, die autonom und auf optimierten Routen Passagiere befördern, könne man in Ballungsräumen wie der Region um Tübingen ein Verkehrsmittel wie die Stadtbahn noch nicht ersetzen. „Erst Mitte dieses Jahrhunderts werden alle Autos autonom fahren“, meinte Palmer. Bis dahin seien Schienenfahrzeuge die besten Verkehrsmittel, wenn man auf möglichst wenig Fläche möglichst viele Menschen befördern will.

Palmer verwies auch auf Forschungen, wonach autonome Fahrzeuge trotz intelligenter Steuerung das Verkehrsaufkommen sogar noch erhöhen könnten. Auch Leute ohne Führerschein würden dann Auto fahren. „Und das Mama-Taxi fährt ohne Mama, weil die Mama die Zeit zum Einkaufen nutzt.“ Mit dem Elektro-Auto, versteht sich.

Doch Umweltschutz ist nicht nur eine Frage des Kohlendioxids. Ein großes Thema in Kalifornien war auch die Gesundheit der Ozeane. Auf der ganzen Welt leiden die Meere unter Erwärmung, Übersäuerung (durch Kohlendioxid) und Verschmutzung durch Plastikmüll. Letzterer fällt auch in Tübingen in stattlichen Mengen an. Doch Palmer sieht Chancen, das Plastikmüllaufkommen zumindest zu reduzieren. Ihm schwebt eine Verpackungssteuer vor, die Imbiss- und Fastfoodläden pro Becher, Teller oder Box bezahlen müssten (wir berichteten). Zwischen 50 Cent und 1 Euro könnten für eine solche Steuer fällig werden. Per Facebook-Umfrage hat Palmer dafür schon im Mai die Stimmung abgefragt, die Zustimmung lag bei 60 Prozent.

Aber wird ein Weltkonzern wie McDonald‘s tatsächlich einmal für jede Big-Mac-Verpackung einen Euro an die Stadt Tübingen abführen? Das ist eine spannende Frage. Immerhin hat das Bundesverfassungsgericht im Jahr 1998 kommunale Verpackungssteuern grundsätzlich für verfassungswidrig erklärt. Die Abfallvermeidung und -verwertung, so argumentierten damals die Richter, werde bundeseinheitlich geregelt und sei nicht Sache der Kommunen. Prompt mussten etliche Städte ihre Pläne wieder aufgeben.

Mittlerweile allerdings mehren sich die Stimmen von Juristen, die Verpackungssteuern als örtliche Verbrauchssteuern für zulässig halten. Grundlage dafür ist unter anderem das „Kreislaufwirtschaftsgesetz“ von 2012, das der Abfallvermeidung Vorrang vor anderen Interessen gebe.

Die städtische Rechtsabteilung, erklärte Palmer gestern gegenüber dem TAGBLATT, habe die Verpackungssteuer jedenfalls geprüft und sei davon überzeugt, dass auch eine Kommune sie erheben dürfe. „Das geht jetzt doch“, ist Palmer zuversichtlich. Noch im Herbst will er die Steuer in den Gemeinderat einbringen: „Dann wären wir bundesweit die erste Stadt, die eine solche Steuer erhebt.“

Das Urheberrecht für Verpackungssteuern kann Tübingen freilich nicht beanspruchen. Als erste Kommune erhob im Jahr 1992 Kassel eine Verpackungssteuer. Die Dokumenta-Stadt wurde allerdings vom Verfassungsgerichtsurteil gestoppt. Bis dahin erbrachte die Steuer pro Jahr immerhin Einnahmen von umgerechnet gut 40.000 Euro.

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Erstellt:
20.09.2018, 20:44 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 48sec
zuletzt aktualisiert: 20.09.2018, 20:44 Uhr

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