Bayreuther Festspiele

Im Ausnahmezustand

Oksana Lyniv ist die erste Frau, die auf dem Grünen Hügel dirigiert. Corona-Notprogramm und Weltklasse-Wagner: Am Sonntag geht's los.

22.07.2021

Von JÜRGEN KANOLD

Mit Richard Wagners früher, romantischer Oper „Der fliegende Holländer“ debütiert Oksana Lyniv in Bayreuth. Foto: Serhiy Horobets/dpa

Mit Richard Wagners früher, romantischer Oper „Der fliegende Holländer“ debütiert Oksana Lyniv in Bayreuth. Foto: Serhiy Horobets/dpa

Bayreuth. Kein roter Teppich, kein Staatsempfang am Sonntag zum Auftakt der Bayreuther Festspiele. Man hat dort Schlimmeres erlebt seit 1876, seit Richard Wagner seinen „Ring des Nibelungen“ erstmals aufführte im eigenen Festspielhaus und danach pleite war. Immer wieder musste die Familie das Geld zusammenkratzen, in vielen Jahren blieb der Vorhang unten, nicht nur kriegsbedingt. Seit 1951 lief das erste und weltberühmteste Opernfestival aber dann durch – bis 2020 die Corona-Pandemie ausbrach. Absage, Ausfall. Weshalb die Freude nun groß ist, nicht nur bei der oberfränkischen Hotellerie, dass in diesem Sommer wieder geschwitzt werden darf auf dem Grünen Hügel, und zwar verschärft, mit Maske.

Ein Wagnerliebhaber hält das aus. Wobei man auf den harten Holzklappstühlen diesmal nicht am Nachbarn klebt. Denn nur 911 Zuschauerinnen und Zuschauer (getestet, geimpft oder genesen) dürfen ins rund 2000 Plätze bietende Festspielhaus. Ein halb leerer Saal? Auch ein Novum, und man darf gespannt sein, wie das dann klingt.

Allerdings muss der Bayreuth-Besucher musikalisch noch andere Kröten schlucken: Der unvergleichliche Festspielchor soll nicht live im Festspielhaus singen, sondern von einer anderen Bühne aus per Lautsprecher ins musikalische Geschehen eingreifen. Aerosolen-Alarm, verständlich bei einer Hundertschaft. Statisten sollen aber, fürs Bild, den Chor in den Inszenierungen pantomimisch vertreten.

Es ist ein Notprogramm, das die Festspiele um ihre Chefin Katharina Wagner aufgelegt haben. Doch die künstlerische Papierform des Ensembles signalisiert große Klasse. Zum Auftakt inszeniert der nicht zuletzt von seinen Arbeiten für die Bayerische Staatsoper bekannte Russe Dmitri Tcherniakov den „Fliegenden Holländer – für Wagnerianer gewissermaßen die Kurzdistanz: nur gut zwei Stunden lang ohne Pause. Asmik Grigorian, die 2017 als Salome in Salzburg Sensation machte, debütiert als Senta. Aber im Mittelpunkt steht natürlich, nach 92 Männern, die erste Frau, die auf dem Grünen Hügel dirigiert: Oksana Lyniv.

Die Ukrainerin studierte in Dresden, war vier Jahre lang in München die Assistentin Kirill Petrenkos und hat intensiv auch verfolgt, wie ihr Chef in Bayreuth einen grandiosen „Ring“ aufführte. Die zierlich-mädchenhafte, unglaublich energievolle wie klangbewusste Lyniv war Generalmusikdirektorin an der Oper Graz und macht jetzt Weltkarriere.

In Stuttgart hat sie schon Tschaikowskys „Pique Dame“ dirigiert und ist dort im Juni/Juli 2022 für die Neuinszenierung von Dvoraks „Rusalka“ aufgeboten. Zuletzt leitete die 43-Jährige mitreißend auch das – nur auf Arte gestreamte – Eröffnungskonzert der Ludwigsburger Schlossfestspiele. Und hatte vorab beim Video-Interview den Journalisten gesagt, dass sich die Dirigentinnen gerade „wie Zirkusaffen“ fühlten. „Ich möchte über die Musik sprechen oder darüber, ob ein Konzert gelungen ist oder nicht.“

Aber jetzt steht sie definitiv im Rampenlicht. Nur dass man die selbstbewusste Oksana Lyniv bei ihrer schwierigen Aufgabe in Bayreuth gar nicht sieht. Das Orchester spielt unter einem Schalldeckel, unsichtbar fürs Publikum, im „mystischen Abgrund“; der Graben führt terrassenförmig unter die Bühne. Ein wunderbarer Klang, aber er mischt sich zunächst mit den Stimmen auf der Bühne und entfaltet sich erst im Saal. Das alles muss ein Dirigent kalkulieren, ausbalancieren.

Der Neuling reagiert auf die heiklen Verhältnisse auch mit Ironie: Der „Deutschen Welle“ sagte Lyniv: „Ich kann die Bühne gut sehen und kann im Stehen dirigieren, dafür habe ich genau die richtige Größe. Denn dieser Graben ist für Richard Wagner maßgeschneidert.“ Wagner war 1,66 Meter klein.

„Blutkünstler“ Nitsch

Die „Meistersinger“ und der Tannhäuser“ gehören noch zum Programm. Auf den neuen „Ring“, den Valentin Schwarz schon 2020 hätte inszenieren sollen, muss das Publikum ein weiteres Jahr warten. Der finnische Dirigent Pietari Inkinen aber wärmt sich mit der „Walküre“ auf – und der 82-jährige „Blutkünstler“ Hermann Nitsch will sie mit einem „Farbenrausch“ bebildern. Mit dabei: Klaus Florian Vogt (Siegmund), Lise Davidsen (Sieglinde), Günther Groissböck (Wotan). Dazu die Kinderoper, die „Diskurs“-Reihe, Konzerte mit Andris Nelsons – und für Christian Thielemann, lange der Hauptleistungsträger auf dem Grünen Hügel, bleibt noch ein konzertanter „Parsifal“.

Wenig ist das nicht. Doch für Festspiele, die gut 65 Prozent ihres Budgets selbst erwirtschaften, ist ein Haus, das coronabedingt nur zur Hälfte belegt werden darf, trotzdem ein finanzielles Desaster. Zum Glück sind die Festspiele schon lange kein Eigentum der Familie Wagner mehr. Der Bund, Bayern, Bayreuth gehören zu den Gesellschaftern der Richard-Wagner-Stiftung. Und können damit auch den nächsten Jahrgang 2022 finanzieren.

Fotografen sichern sich die besten Plätze? Auch dieses Jahr fällt der rote Teppich aus. Foto: Jürgen Kanold

Fotografen sichern sich die besten Plätze? Auch dieses Jahr fällt der rote Teppich aus. Foto: Jürgen Kanold

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Erstellt:
22.07.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 12sec
zuletzt aktualisiert: 22.07.2021, 06:00 Uhr

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