Zum Tod von George Floyd

Ich kann nicht atmen

Die ehemalige TAGBLATT-Mitarbeiterin Margarita Pastene hat für die chilenische Zeitung „El Siglo“ folgenden Text geschrieben. Übersetzt wurde er von Ulrike Pfeil.

05.06.2020

Von Margarita Pastene

Die ganze Welt konnte in etwa neun Minuten sehen, wie im nordamerikanischen Staat Minnesota ein weißer (man muss das erwähnen) Polizist seine Knie auf den Hals eines schwarzen Bürgers drückte, bis er ihn erstickte. Diese Szene der Brutalität und des tragischen Todes von George Floyd erinnerte mich an eine sehr traurige Episode, die ich in der beschaulichen Stadt Tübingen erlebte, im Süden Deutschlands.

Mehr als 30 Jahre sind vergangen seit jenem 19. August 1987, als mich mitten im europäischen Sommer ein Telefonanruf mit dieser Nachricht aufschreckte: Der junge Iraner Kiomars Javadi war an diesem Tag in einem kleinen Supermarkt der Stadt von einem jungen Deutschen ermordet worden, einem Angestellten des Ladens, der Kiomars gewaltsam von hinten packte und ihn am Hals festhielt, bis er erstickte. Der Täter glaubte, dass das Opfer einen Ladendiebstahl begehen wollte, den er verhindern müsse. Als die Polizei am Tatort eintraf, war Kiomars bereits tot, und vielleicht hatte er in seiner Muttersprache wie George Floyd gerufen: „Ich kann nicht atmen.“

Für eine multikulturelle, tolerante und großzügige Gemeinde wie Tübingen war diese Tragödie derart aufrüttelnd, dass wir, kaum hatte sich die Nachricht in der Stadt verbreitet (es gab damals noch keine Netzwerke sozialer Medien), auf die Straße stürzten und zum Ort der Tragödie eilten, um gegen diesen Mord zu protestieren, der uns mit einer Realität konfrontierte, von der wir glaubten, dass sie sich bei uns nicht einnisten könne: der Rassismus, die Fremdenfeindlichkeit.

Drei Tage lang schloss sich die ganze Stadt zusammen, um ihren Abscheu über den Tod des jungen Iraners zu bekunden, der als Flüchtling in die Stadt gekommen war: Schüler, Studierende, Arbeiter/innen, multikulturelle Organisationen, und ja, auch lokale und regionale politische Vertreter. Der berühmte Dichter Erich Fried widmete Kiomars Javadi eines seiner letzten Gedichte: „Wäre dieser Tote ein Deutscher gewesen“.

Mit diesem Satz in unseren Gedanken liefen wir in massenhaften Demonstrationen in jeden Winkel unserer Stadt (das war sie), denn kein Ort sollte ausgenommen bleiben in dem verzweifelten Bemühen, jede Spur von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit zu tilgen. Der dumpfe Klang einer Trommel rief uns zusammen, um unseren Schmerz und unseren Zorn auszudrücken.

Dabei konnten wir in Tübingen auf Menschen zählen, die uns den Weg der Solidarität, der Empathie, der Achtung und der Toleranz gewiesen hatten; außergewöhnliche Persönlichkeiten, die stets bereit waren, uns zu unterstützen und vorbehaltlos auf unserer Seite zu stehen, wenn es um Demokratie und Frieden ging. Ernst und Karola Bloch, Walter und Inge Jens, sie alle gaben zu ihrer Zeit, an ihrem Platz, in ihren Werken außergewöhnliche Beispiele für Ethik und Moral.

Diese Paare waren wie vertraute gute Nachbarn immer zur Stelle in Tübingen, bei jenen, welche „die Anderen“ verkörperten, den Emigranten, den Exilierten, und das bis an die Grenze der Legalität: Einmal nahm das Ehepaar Jens ein Paar US-Soldaten auf, die desertiert waren, weil sie nicht in den Golfkrieg ziehen wollten.

In dieser Überzeugung und diesem Engagement wurzelte die tiefe Freundschaft zwischen den Blochs und dem Ehepaar Jens. Zweifellos war der Philosoph Ernst Bloch der tragende Fels, dazu kamen die besondere Ausstrahlung unserer vielseitigen Karola, nicht zu vergessen das Werk und die historischen Studien von Inge Jens und der unerschöpfliche intellektuelle Fleiß des Philologen Walter Jens, eines Patriarchen des Pazifismus und eines Sympathisanten der Antiatom-Bewegung, der schließlich fast ein Jahrzehnt (1989 bis 1997) Präsident der Akademie der Künste in Berlin war, in entscheidenden Jahren der deutschen Politik und Kultur. Mit diesen Nachbarn klammerten wir uns an das Prinzip Hoffnung (Bloch).

Unser enger iranischer Freund Rahim Shirmahd, Fotograf und Videofilmer, hat jene Tragödie von Tübingen in einem Dokumentarfilm verarbeitet, als Hommage im Andenken an seinen Landsmann und Freund Kiomars Javadi. In seiner audiovisuellen Produktion „Zivilcourage“ von 18 Minuten Länge beschrieb Rahim diesen bürgerlichen Mut, der niemals wanken darf, um jede Art von Ungerechtigkeit und Diskriminierung abzuwehren, egal wo.

Obwohl der Film sich auf den gewaltsamen Tod des jungen Asylbewerbers konzentriert, greift er doch auch die schwierigen Lebensumstände der Flüchtlinge auf, denn für viele von ihnen „ist es ein Moment ohne Perspektiven, gleichermaßen von Hoffnung und Angst“.

Die Tode von Kiomars Javadi und George Floyd führen uns unweigerlich die Existenz des Rassismus in unseren Gesellschaften vor Augen, die Existenz der Fremdenfeindlichkeit und der ungerechtfertigten Diskriminierung, wie die unerträglichen Argumente derjenigen hier in Chile, die versucht haben, den Migranten die Schuld für alle erdenklichen Übel in die Schuhe zu schieben. Nun, lasst uns die Gefühle von Hass und Wut der Menschen verstehen, die in den USA protestieren. Und lasst auch uns machtvoll einstimmen in den Ruf: „Ich kann nicht atmen!“

Zum Originaltext in „El Siglo“

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Erstellt:
05.06.2020, 17:19 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 28sec
zuletzt aktualisiert: 05.06.2020, 17:19 Uhr

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