„Ich habe Menschen anderer Hautfarbe nicht stigmatisiert“

OB Boris Palmer hat sich in einer schriftlichen Erklärung gegen die Vorwürfe verteidigt

Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer verlas im Gemeinderat am Montag folgende – hier um weniger als die Hälfte gekürzte – Erklärung:

24.07.2018

Von ST

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir debattieren über einen Antrag, den die Fraktionen der SPD und der Linke eingebracht haben. Ich möchte deswegen mit Zitaten prominenter Politiker dieser beiden Parteien in die Diskussion einsteigen. Sigmar Gabriel hat am 16. Juni im „Tagesspiegel“ geschrieben, Deutschland drohe „an der Flüchtlingsfrage irre zu werden.“ Er begründet das so: „Wir haben uns nicht getraut, ohne Schaum vor dem Mund über die Möglichkeiten und Grenzen der Flüchtlingszuwanderung zu diskutieren. Jetzt haben wir die Quittung.“

Auch in der Partei der Linken wird dieser Streit geführt. Sie haben gegen den entschiedenen Widerstand der Fraktionsvorsitzenden Sahra Wagenknecht offene Grenzen für Flüchtlinge gefordert. In der „Zeit“ vom 17. Mai dieses Jahres hat Prof. Bernd Stegemann eine Parallele zwischen Sahra Wagenknecht und mir gezogen: „Auftrumpfende Moral ist stets die größte Ursache für Streit. Das beste Gegenmittel ist eine gute Portion Realismus und Pragmatismus. Über beides scheinen unsere tragischen Helden“– gemeint sind Wagenknecht und Palmer – „zu verfügen. Dass sie aus genau diesem Grund diffamiert werden, sollte zumindest den wacheren Zeitgenossen unter ihren Kritikern zu denken geben.“ Diese Conclusio bezieht sich übrigens ausdrücklich auf den Vorfall in Ulm, der Anlass für die heutige Debatte ist.

Eine aus meiner Sicht ebenfalls sehr bedenkenswerte Analyse des Musters hinter den Vorwürfen, denen ich heute wieder ausgesetzt bin, hat Dr. Sandra Kostner, Geschäftsführerin des Masterstudiengangs „Interkulturalität und Integration“ und Diversitätsbeauftragte der Hochschule Schwäbisch Gmünd verfasst. Sie schreibt: „(…) Man muss Boris Palmers Einschätzung des Kampfradler-Vorfalls nicht teilen und kann an der einen oder anderen Formulierung Kritik üben. Aber Rassismusvorwürfe zur Anwendung zu bringen, ist sachlich falsch, weitaus polarisierender als seine eigenen Äußerungen und dient offenkundig anderen Zwecken als dem Kampf gegen Rassismus bzw. für ein weltoffenes Tübingen, in dem sich alle Menschen wohl und willkommen fühlen. Sachlich falsch sind sowohl die Rassismusdiagnosen im Schwäbischen Tagblatt als auch die des Kreisverbandes von Bündnis 90/Die Grünen. So ist es beispielsweise kein Ausdruck von Rassismus, wenn der Tübinger OB an das Verhalten von Asylsuchenden höhere Maßstäbe anlegt, da dies nicht aufgrund eines unveränderlichen biologischen Merkmals erfolgt, sondern aufgrund des mit einem spezifischen Versorgungs- und Fürsorgeanspruch einhergehenden rechtlichen Aufenthaltsstatus. (...) Gesellschaftliche Polarisierungen werden durch fehlplatzierte Rassismusunterstellungen verstärkt. (...)“

Wie Sie sicher gemerkt haben, stufe ich die Vorhaltungen, die mir heute gemacht werden, als falsch ein. Ich habe Menschen anderer Hautfarbe nicht unter Generalverdacht gestellt oder stigmatisiert. Trotzdem frage ich mich, warum es mir so oft so ähnlich ergeht wie heute Abend. Es ist ja wahrlich nicht das erste Mal, dass ich mich Vorwürfen ausgesetzt sehe, ein Rechtspopulist, ein Rassist oder noch Schlimmeres zu sein.

Ich sehe das Problem nicht im sachlichen Gehalt meiner Aussagen. Im Gegenteil, wenn ich die Entwicklung der letzten drei Jahre betrachte, dann scheint es mir, dass der größte Teil meiner Prognosen sich bewahrheitet hat und ein erheblicher Teil meiner Forderungen und Folgerungen heute unterstützt wird oder bereits realisiert ist. Als Verantwortungsethiker, der ich in meinem Selbstverständnis politisch bin, ist es für mich allerdings besonders verstörend, recht zu haben, aber nicht recht zu bekommen, sondern Unverständnis, Hohn, Spott, Widerstand und, ja, auch üble Beleidigungen und Beschimpfungen zu ernten.

(...) Mir fällt auf, dass die Skandalisierung sich stets an der Wortwahl festmacht und das eigentlich Gemeinte ganz in den Hintergrund rückt. Das ist anstrengend und kein Zeichen eines reifen demokratischen Diskurses. (...)

Wenn wir zu Lösungen in der Flüchtlingsfrage kommen wollen, dann müssen Menschen wie ich mehr Rücksicht darauf nehmen, welch kontraproduktive Wirkung eine zu ungeschminkte Schilderung der Wirklichkeit haben kann. In der gleichen Weise könnten manche Widersacher zu einer solchen Debatte beitragen, indem sie Raum für Realismus und Pragmatismus geben und Äußerungen in diesem Geist nicht moralisch zu diskreditieren versuchen. Ich kann nur hoffen, wir schaffen das.

Lesen Sie hier die schriftliche Erklärung Boris Palmers in voller Länge