Interview

Andreas Schwarz: „Ich glaube an Baerbock als Kanzlerin“

Grünen-Landtagsfraktionschef Andreas Schwarz über Umfragen, vorausschauende Politik, Präsenzunterricht – und Investitionen in die Long-Covid-Forschung.

28.08.2021

Von Roland Muschel

Grünen-Landtagsfraktionschef Andreas Schwarz bei einem Auftritt im Landtag, im Hintergrund Ministerpräsident Winfried Kretschmann. Foto: Sebastian Gollnow/dpa

Grünen-Landtagsfraktionschef Andreas Schwarz bei einem Auftritt im Landtag, im Hintergrund Ministerpräsident Winfried Kretschmann. Foto: Sebastian Gollnow/dpa

Mit dem Rennrad hat sich Grünen-Landtagsfraktionschef Andreas Schwarz, 41, im Sommerurlaub auf das Stilfser Joch hochgekämpft, den mit 2757 Metern höchsten Gebirgspass Italiens. Nun sitzt er in seinem Büro im Haus der Abgeordneten in Stuttgart. Vor ihm liegen Unterlagen, an der Wand hängt ein Foto: Schwarz neben dem grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann. Das Gespräch dreht sich um die Bundestagswahl, Corona – und die Nachfolgefrage.

Herr Schwarz, die Grünen treten bei der Bundestagswahl erstmals mit einer Kanzlerkandidatin an, Ihre Partei lag in den Umfragen klar vorne, bevor sie auf Rang drei abgestürzt sind. Wie kann so etwas passieren?

Andreas Schwarz: Bei der Bundestagswahl ist noch viel Spiel. Wenn man sich die Umfragen anschaut, liegen Grüne, CDU und SPD alle zwischen 17 und 25 Prozent.

Der Karlsruher Grünen-Landtagsabgeordnete Alexander Salomon hat diese Woche auf Twitter geschrieben: „Wahlkampf-Zustand: Manchmal hast Du Pech und dann kommt auch noch Unvermögen hinzu.“ Trifft es das nicht?

Wir werden die Wahl gewinnen, wenn es uns gelingt, dass wieder über Inhalte gesprochen wird. Wir brauchen eine Bundesregierung, die vorausschauend agiert, die weiß, wie man mit Krisen umgeht. Erderhitzung, Hochwasser, Migrationsbewegungen, der Konfliktherd in Afghanistan: Das sind alles Krisen, die eine vorausschauende, aktive Politik angehen muss. Die Probleme können nicht länger ausgesessen werden. Wir Grüne haben die besten Konzepte, um Klimaschutz und Wirtschaft voranzubringen. Die Solarpflicht in Baden-Württemberg ist ein gutes Beispiel: Sie nutzt dem Klima, aber auch dem Handwerk, dem Mittelstand.

Sie glauben, dass Annalena Baerbock Kanzlerin wird?

Ich glaube an eine Kanzlerin Baerbock. Wer hätte vor zwei Wochen gedacht, dass uns ein außenpolitisches Thema wieder einholt?

Was müssen die Südwest-Grünen für das Ziel Kanzleramt beisteuern?

Wir werden in Baden-Württemberg sicher ein überdurchschnittliches Ergebnis beisteuern und eine starke grüne Landesgruppe stellen.

Halten Sie es für möglich, dass die Grünen in Baden-Württemberg erstmals bei einer Bundestagswahl auch ein Direktmandat gewinnen?

Ich traue sowohl Cem Özdemir in Stuttgart als auch unserer Spitzenkandidatin Franziska Brantner in Heidelberg zu, das Direktmandat zu holen.

Im Land regiert Ihre Partei mit der CDU. Wäre Grün-Schwarz oder Schwarz-Grün auch die Wunschoption für Berlin?

Wir sind im Wahlkampf, da kämpft jeder für sich. Nach der Wahl sehen wir dann weiter.

In Baden-Württemberg gibt sich die CDU seit der Landtagswahl geläutert. Nehmen Sie ihr die postulierte neue Aufgeschlossenheit für grüne Themen ab?

Ich habe den Eindruck, dass die CDU verstanden hat, dass sich Querschüsse nicht bezahlt machen. Die Zusammenarbeit funktioniert bisher sehr gut. Wir haben auch einen sehr präzisen Koalitionsvertrag, mit dem wir Baden-Württemberg voranbringen wollen und der eine grüne Handschrift trägt. Er ist die Geschäftsgrundlage für diese Landesregierung.

Bei Afghanistan rufen Grüne nach einem Sonderkontingent, die CDU warnt, 2015 dürfe sich nicht wiederholen. Ist das die neue Eintracht?

Es gibt eine moralische Verpflichtung, alle, die mit den Deutschen oder westlichen Alliierten zusammengearbeitet haben, und deren Familienangehörige sehr schnell nach Deutschland auszufliegen. Wir als baden-württembergische Grüne wollen diesen Menschen samt ihren Familien Schutz bieten. Das kann über ein großzügiges Bundesprogramm erfolgen – oder über ergänzende Landesprogramme. Der Weg ist zweitrangig.

Seit der Landtagswahl führen die Grünen erstmals das Kultusministerium. Was können Sie den Eltern zum bald beginnenden neuen Schuljahr versprechen, was Lehrerversorgung, Unterrichtsgarantie und den Schutz vor Corona angeht?

Zum neuen Schuljahr können wir Präsenzunterricht zusagen. Wir haben hohe Schutzmaßnahmen getroffen, ein Landesprogramm für Luftfilter aufgelegt und bieten zwei kostenlose Tests pro Woche. Bei älteren Schülerinnen und Schülern werben wir auch fürs Impfen. In die Schule kommen damit nur Schülerinnen und Schüler, die geimpft, genesen oder getestet sind. Wir tun damit alles, damit der Präsenzunterricht wieder garantiert ist. Und wir tun alles, um Lernlücken zu schließen. In den letzten beiden Ferienwochen bieten wir Lernbrücken an. Zum neuen Schuljahr startet zudem das Aufhol-Programm „Rückenwind“. Die Aufgabe, die wir noch vor uns haben, ist, die Digitalisierung der Schulen voranzubringen. Auch da werden wir liefern.

Wird der Bildungsbereich bei den geplanten Sparmaßnahmen geschont werden?

Jedes Ministerium muss mit Blick auf den Haushalt 2022 seinen Beitrag leisten, um neue Schulden zu verhindern. Das hat das Kabinett im Juli einstimmig beschlossen. Klar ist aber auch, dass wir investieren werden – in Bildung, in Klimaschutz, in innovative Wirtschaft. Und, was mir ganz wichtig ist: in die Long-Covid-Forschung.

Können Sie das präzisieren?

Bislang ist gegen Folgeerkrankungen von Corona kein Kraut gewachsen – es gibt noch keine Therapie, die nachgewiesenermaßen wirksam ist. Dabei wissen wir, dass jeder fünfte bis zehnte Patient einer Corona-Erkrankung an Covid-Spätfolgen leidet. Allein in Baden-Württemberg leben damit schon jetzt schätzungsweise zwischen 50 000 und 100 000 Menschen mit Long-Covid-Symptomen, die Zahl wird weiter steigen. Um wirksame Lösungen für Betroffene zu entwickeln, brauchen wir mehr Wissen: Was passiert nach einer Infektion mit dem Körper? Wie lange dauern die Folgen einer Infektion an? Und: Mit welchen Therapien kann darauf reagiert werden? Da brauchen wir Zahlen, Daten, Fakten.

Long-Covid ist ein weltweites Problem, was kann da ein Land wie Baden-Württemberg ausrichten?

Baden-Württemberg ist ein erstklassiger Forschungs- und Medizinstandort, wir haben die besten Voraussetzungen. Jetzt geht es darum, die Kompetenzen zu bündeln und auf die Erforschung der Corona-Spätfolgen auszurichten. Eine gemeinsame Studie der Unikliniken Freiburg, Heidelberg, Tübingen und Ulm gegen Long-Covid steht in den Startlöchern. Das ist dafür der Auftakt. Wir wollen in Deutschland einen Standard in der Long-Covid-Forschung setzen. Langfristig soll die Therapie gegen Long-Covid aus Baden-Württemberg kommen. Wir wollen ja insgesamt den Gesundheitsstandort zu einem zweiten starken Standbein neben dem Maschinen- und Anlagenbau im Südwesten ausbauen. Da bietet sich genau dieses Segment für Forschung an. Corona wird ja nicht Ende des Jahres vorbei sein, Long-Covid erst recht nicht.

Als die CDU noch den Regierungschef gestellt hat, war der CDU-Fraktionschef der erste Anwärter auf die Nachfolge?...

...? davon habe ich auch gehört. Fraktionsvorsitzende sind ja wie Ministerpräsidenten Allrounder. Sie sind für die ganze Bandbreite an Themen zuständig und bereits in Führungsverantwortung, insofern hat das eine gewisse Logik.

Wie ist das bei den Grünen?

Wir Grünen standen noch nie vor dieser Situation, das ist für uns neu.

Ist eigentlich geregelt, wie die Grünen eine Nachfolge von Ministerpräsident Winfried Kretschmann, der erklärtermaßen spätestens 2026 aufhören wird, regeln wollen?

Das ist derzeit kein Thema.

Wirtschaftsjurist mit kommunaler Prägung

Andreas Schwarz, 41, sitzt seit 2011 für den Wahlkreis Kirchheim im baden-württembergischen Landtag, seit 2016 führt er die grüne Regierungsfraktion an. Erste politische Erfahrungen hatte er als Jugendgemeinderat in Kirchheim an der Teck gesammelt, wo er noch heute wohnt. Später war der 2,01 Meter große Schwarz Chef der kommunalpolitischen Vereinigung der Südwest-Grünen. Der Wirtschaftsjurist ist verheiratet, das Paar hat eine Tochter. In seiner Freizeit fährt er gerne Rennrad.

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Erstellt:
28.08.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 4min 27sec
zuletzt aktualisiert: 28.08.2021, 06:00 Uhr

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