Interview

„Ich freue mich auf Reus“

Weltmeister Berti Vogts blickt auf die WM – mit Anekdoten von einst und der Analyse von heute.

14.06.2018

Von ARMIN GRASMUCK

Der frühere Fußball-Bundestrainer Berti Vogts. Foto: Henning Kaiser/dpa

Der frühere Fußball-Bundestrainer Berti Vogts. Foto: Henning Kaiser/dpa

Baiersbronn. Berti Vogts hat sich genussvoll im Schwarzwald auf die Weltmeisterschaft vorbereitet. In der Baiersbronner Nobelherberge Traube Tonbach traf der Weltmeister von 1974 und spätere Bundestrainer auf Weggefährten wie Jürgen Kohler, Thomas Helmer und Stefan Kuntz. Im Interview erklärt Vogts, was den speziellen Reiz einer WM ausmacht, wie die Chancen der deutschen Mannschaft in Russland stehen und auf welche Spieler er sich besonders freut.

Heute wird in Moskau die WM eröffnet. Spüren Sie schon das Kribbeln?

Berti Vogts: Kribbeln ist etwas übertrieben, aber ja, ich freue mich, dass wieder etwas Vernünftiges im Fernsehen übertragen wird. Ich bin gespannt auf das Eröffnungsspiel, wie Russland sich darstellt. Und ich freue mich auf den Fußball, welche Trends es im spielerischen Bereich gibt, ob es etwas Neues zu entdecken gibt.

Ab wann merken die Spieler und Trainer konkret: Jetzt geht's los?

Mit der ersten Trainingseinheit in Russland, wenn du abgeholt wirst, mit Polizeieskorte zum Platz fährst. Dann das Abschlusstraining im Stadion. Du schaust dich um, schaust auf die hohen Tribünen und denkst: Uhhh, jetzt wird es ernst. Der Junge, der vorher selbstbewusst aufspielte, wird plötzlich leise. Die Routiniers, gerade die erfolgreichen, erinnern sich: Wie schön war es vor vier Jahren. Da wollen wir wieder hin.

Im letzten Testspiel musste sich die deutsche Mannschaft am Freitag zu einem 2:1 gegen Saudi-Arabien quälen. Wie weit ist der Titelverteidiger?

Es wäre nicht normal, wenn wir gegen die Araber schon 80 Minuten Vollgas gespielt hätten. Sie hätten nach 30 Minuten locker 3:0 führen können. Dann ließen die Kräfte nach, was nach zwei Wochen Trainingslager wenig überraschend war. Aber am Sonntag, wenn es ernst wird, müssen sie mindestens bei 80 Prozent sein.

Ilkay Gündogan ist aufgrund des umstrittenen Treffens, das er und Mesut Özil mit dem türkischen Präsidenten Erdogan hatte, während der Partie in Leverkusen laut ausgepfiffen worden. Ist das Spiel der Deutschen davon beeinflusst worden?

Es geht an keinem spurlos vorbei. Gündogan muss damit umgehen. Ich wünsche ihm, dass er am Sonntag das Siegtor erzielt. Damit die Angelegenheit endlich erledigt ist und er zeigen kann: Hey, ich bin wirklich einer von euch! Über alles andere will ich nicht mehr groß reden. Sie sind keine 18 Jahre mehr. Sie hätten wissen müssen, was auf sie zukommt. Auch ihren Beratern mache ich einen Vorwurf. Sie hätten ihre Klienten besser schützen müssen.

Wie schwer ist es, nach der langen Phase des Trainings im ersten WM-Spiel von null auf hundert zu schalten?

Man weiß nicht, wo man steht. Speziell die Spieler, die zum ersten Mal bei der WM sind, müssen sich daran gewöhnen. Es ist wichtig, dass die Erfahrenen wie Neuer, Boateng oder Hummels, Kroos und Müller sie an der Hand nehmen nach dem Motto: Junge, bleib locker. Wir wollen hier noch mehr Partien bestreiten.

Ist die deutsche Mannschaft stark genug, den Titel zu verteidigen?

Sie werden gejagt, das muss jedem klar sein. Es ist gut, dass die Spieler in den Tests im März gegen Spanien und Brasilien schon gesehen haben, woher der Wind weht. Ich denke, dass ihnen Jogi Löw die Bilder noch einmal eindringlich vorgeführt hat. Keiner hätte sich beschweren dürfen, wenn die Spanier zur Halbzeit 3:0 führen. Da dachte ich mir: Verdammt nochmal, wo stehen wir?

Generell, was macht die WM für einen Spieler so besonders?

Unvergesslich bleibt für mich Mexiko 1970, meine erste WM. Ich war der Jüngste, durfte an der Seite großer Spieler wie Schnellinger, Schulz, Seeler und Helmut Haller antreten. Ich habe jeden Augenblick in mich hineingesaugt. Wie Uwe Seeler noch beim Einlaufen zu mir sagte: Berti, du schaffst das! Spiel so wie im Klub! Es war meine schönste WM, auch weil uns das mexikanische Publikum so freundlich empfangen hat.

Ab wann merken die Akteure im Verlauf einer WM, dass der große Triumph realistisch wird?

Die größte Enttäuschung war für mich als Trainer die WM 1994. Wir waren Titelverteidiger, hatten viel bessere Spieler dabei als vier Jahre zuvor – aber waren keine Mannschaft. Wir hatten drei Gruppen: die Weltmeister von 1990, die neuen Spieler aus der Bundesliga und die Spieler aus der früheren DDR. Die ersten drei Spiele bei der WM waren nur Stückwerk. Dazu kam die Affäre mit Stefan Effenberg, der sich mit den Zuschauern anlegte, die neue Unruhe brachte. Im Viertelfinale gegen Bulgarien wurde uns ein regulärer Treffer aberkannt, wir schieden aus. Gewinnen wir das Spiel, ziehen wir ins Finale ein.

Muss bei den Spielern, die den Titel des Weltmeisters verteidigen, der Hunger neu entfacht werden?

Die Spieler wollen immer gewinnen. So eine WM ist einfach etwas ganz Besonderes, auch für die Fußballer. Ich merke es selbst heute noch. Wenn ich zuhause mit dem Hund spazieren gehe, rufen mir die Leute zu: Mensch, jetzt geht es endlich wieder los! Sie freuen sich drauf und sie wollen eine gut funktionierende deutsche Mannschaft sehen.

Was halten Sie davon, dass bei den Partien in Russland der Videobeweis eingesetzt wird?

Der Videobeweis killt den Fußball. Die Leute wissen doch gar nicht mehr: Dürfen wir uns jetzt über das Tor freuen? Oder erst in drei Minuten? Ich bin total dagegen. Ich finde auch die Ansetzung der Schiedsrichter unglücklich. Kein Engländer ist dabei, aber einer aus Haiti. Jeder Mensch macht Fehler, aber wenn der Herr aus Haiti sich einen leistet, ist das Geschrei sicherlich noch größer.

Auf welchen Spieler freuen sie sich bei der WM am meisten?

Für Marco Reus persönlich freue ich mich, dass er endlich ein Turnier spielen kann. Selbst wenn er nur 90 Prozent seiner Qualität bringt, wird er eine tolle WM spielen. Und ich wünsche mir, dass Neymar zurückkommt und endlich zeigen kann, was er alles drauf hat. Sein Dribbling im Duell Mann gegen Mann. Ich freue mich auch auf Cristiano Ronaldo, der ein außergewöhnlicher Spieler und Mensch ist. Auf dem Platz wirkt er wie ein Egoist, weil sein Spiel so angelegt ist. Aber er ist ein sehr netter, anständiger und sozial denkender Fußballer.

Kann die WM in Russland ein Fußballfest werden?

Es ist sicher kein traditionelles Land des Spiels wie England, Italien, Brasilien oder Deutschland. Aber ich hoffe, dass wir schöne Partien sehen werden. Die Russen sind herzliche Gastgeber – und die Deutschen sind sehr beliebt in Russland.

Wer sind Ihre WM-Favoriten?

Spanien, Brasilien, die Franzosen, auch wenn sie in den Tests durchwachsen spielten – und natürlich unsere Mannschaft, wenn sie in der Defensive kompakter steht als zuletzt. Die große Unbekannte ist für mich England: Spielen sie nur mit, oder explodieren sie?

Wie werden Sie die WM verfolgen?

Zuerst schaue ich mir die Spiele zuhause am Fernseher an. Ab dem Achtelfinale bin ich für einen ukrainische Sender im Einsatz. Ich bin also auf jeden Fall beim Finale live dabei – allerdings im Studio in Kiew. (lacht)