Tübingen · Kriminalität

Tricks falscher Polizisten: „Ich dachte, das könnte mir nie passieren“

Telefonbetrüger erbeuten jedes Jahr Millionenbeträge. Ihre Tricks sind psychologisch so raffiniert, dass sie auch bei Menschen verfangen, die sich immun dagegen wähnten – wie Dagmar Greitemeyer.

17.04.2021

Von Jonas Bleeser

Legte schließlich auf und holte sich so die Kontrolle zurück: Dagmar Greitemeyer. Bild: Michael Greitemeyer

Legte schließlich auf und holte sich so die Kontrolle zurück: Dagmar Greitemeyer. Bild: Michael Greitemeyer

Die Tübingerin Dagmar Greitemeyer kennt sich mit Kommunikation aus. Jahrelang war die promovierte Sozialwissenschaftlerin Supervisorin, Dozentin und Therapeutin. Sprache war das wichtigste Werkzeug ihres Berufslebens: Mit ihrer Hilfe gab sie Wissen weiter, entschlüsselte sie Beziehungen anderer, analysierte deren Austausch untereinander, brachte ihre verborgenen Motive ans Licht. Greitemeyer ist ein Verständigungs-Voll-Profi und alles andere als leichtgläubig oder naiv. Und trotzdem wäre sie den Telefonbetrügern beinahe auf den Leim gegangen.

Die setzen ebenfalls ihre Stimme ein – aber nicht, um Menschen zu helfen. Auch wenn diese Illusion eine ihrer Waffen ist, geht es ihnen nur um eines: Das Geld ihrer Opfer, um die sie ein raffiniertes Gespinst aus Lügen spinnen.

Das hat Greitemeyer am eigenen Leib erfahren. Eigentlich hielt sie sich für dagegen gefeit: „Ich dachte, das könnte mir nie passieren“, sagt sie, „aber das kann es wirklich jedem.“ Nachdem bereits vergangenes Jahr angebliche Polizisten bei ihr angerufen hatten, um sie zu überreden, ihnen ihr Geld zu geben, damit es vor Einbrechern geschützt sei, probierten es Betrüger in diesem Jahr erneut. Wie raffiniert die dabei vorgingen, hat Greitemeyer aufgeschrieben (hier kursiv) und mit dem TAGBLATT analysiert. So lief der Betrugsversuch ab:

Ich werde von Andreas Bachmann vom Polizeipräsidium Stuttgart angerufen: Gegen mich läge ein Haftbefehl vor wegen der Ausübung eines Gewerbes. „Was für ein Gewerbe? Ich bin Rentnerin!“

Auf den ersten, kleinen Schock (Was will die Polizei von mir?), kommt sofort ein Hammer, der bei Greitemeyer alle Alarmglocken läuten lässt: Ein Haftbefehl! Aber sie ist doch unschuldig! Als sie die Ausübung eines Gewerbes verneint, sucht der Anrufer sofort nach anderen Anknüpfungspunkten:

Es handelt sich um ein Gewerbe, das auf Ihren Namen lautet. Eine GmbH. Ob es sich um den Ehemann handeln könnt?

„Nein, wir sind geschieden.“

Nun platziert der Anrufer im Gespräch den nächsten Baustein seines Lügengebäudes: Er eröffnet Greitemeyer, sie müsse in Untersuchungshaft. Ihre Freiheit ist bedroht! Was kann sie nur dagegen tun? Sofort eröffnet ihr der angebliche Stuttgarter Polizist einen scheinbaren Ausweg:

Ich soll Jürgen Bommel vom BKA in Wiesbaden anrufen, über das Mobiltelefon, er würde mir alles erklären. Tel.: 009 053 735 05 661. Von ihm erfahre ich: Die Staatsanwaltschaft sei eingeschaltet. Es würde sich um ein Online-Gewerbe in Frankfurt/M. handeln, um minderjährige Kinder. Ich habe wahrscheinlich von dem Campingplatz in Lügde gehört. Im Rahmen dessen, seien meine Daten auf deren Website aufgetaucht.

Was Greitemeyer zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiß, ihr aber später einer ihrer Söhne nach einer kurzen Recherche im Netz erzählen wird: Die Vorwahl gehört zur Türkei. Von dort aus arbeiten nach Erkenntnissen der echten Polizei mehrere Banden, die in Call-Centern organisiert sind. Manche machen tagsüber legales Telefonmarketing, abends zocken sie deutsche Senioren ab.

Die Betrüger bleiben fast immer unerkannt. Da sie meist vom Ausland aus operieren, werden sie nur sehr selten bestraft. Symbolbild: Ulrich Metz

Die Betrüger bleiben fast immer unerkannt. Da sie meist vom Ausland aus operieren, werden sie nur sehr selten bestraft. Symbolbild: Ulrich Metz

Der Anrufer hat nun zwei Dinge erreicht: Er erhöht einerseits seine Glaubwürdigkeit, weil scheinbar eine weitere staatliche Stelle involviert ist: Sogar das Bundeskriminalamt in Wiesbaden. Gleichzeitig errichtet er eine Drohkulisse und ängstigt Greitemeyer damit, ihr Name stehe im Zusammenhang mit einem abscheulichen Verbrechen, das in der Gesellschaft besonders geächtet ist – sexueller Gewalt gegen Kinder.

„Ich war so verwirrt und durcheinander, so unter Stress“, erinnert sich die 78-Jährige, „ich dachte, ich müsste mir die gewogen machen.“ Und nun eröffnet ihr der Anrufer einen möglichen Ausweg: Er glaube selbst nicht, dass sie schuldig ist. Und er führt sie gleichzeitig in die von ihm gewünschte Richtung: Denn am Ende soll Greitemeyer ja Geld in die Türkei überweisen.

Es gäbe drei Möglichkeiten, ich selbst sei es nicht; jemand, dem ich eine Vollmacht gegeben habe, oder es handle sich um Datenmissbrauch. In der Türkei seien Datenmengen aufgetaucht. Ob ich zu Türken Verbindungen hätte? Herr Bommel glaubt mir meine Unschuld, weil ich auch keinen Eintrag im Strafregister hätte, und will beim Staatsanwalt, Herrn Dr. Fieger erreichen, dass der Haftbefehl nicht vollzogen würde.

Ein weiterer Trick: Weitere Personen angeblicher anderer staatlicher Stellen ins Spiel bringen, die verteilte Rollen übernehmen – einer mimt den fordernden, drohenden, einer den verständnisvollen Ermittler. Außerdem legitimieren sie sich gegenseitig. „Dass er wusste, dass ich keinen Eintrag im Strafregister habe, das hat seine Glaubwürdigkeit für mich untermauer“, stellt Greitemeyer rückblickend fest.

Ich soll zehn Minuten warten. Aber gleich danach ruft Herr Bachmann wieder an: Er will mir eine Verschwiegenheitserklärung per Mail schicken. Ich soll gleich nachschauen, ob sie angekommen sei.“

Die Betrüger dirigieren sie zu ihrem PC, lassen sich die E-Mail-Adresse geben. In ihrem Postfach landet ein offiziell aussehendes Schreiben mit einem Briefkopf des BKA Wiesbaden.

Ich schlage vor, sie zu unterschreiben und ihm zuzuschicken. Adresse? Nein, braucht es nicht. (HÄ??) Und wieder Herrn Bommel anrufen.

Nun folgt der nächste Schritt: Dem Opfer darf keine Zeit zum Nachdenken gewährt werden. Und es muss isoliert werden, soll sich mit niemandem besprechen können, der die Geschichte in Zweifel ziehen könnte – deshalb die angebliche Verschwiegenheitserklärung, die per Mail kommt.

Aber jetzt geht es plötzlich um einen Prozess in der Türkei. Dazu müsste ich Anwälte schicken, die mich vertreten. Ich frage, wer soll das zahlen, den Flug und die Anwaltskosten? „Sie natürlich, wer sonst?“

Jetzt wird die Tübingerin misstrauisch: Sie erklärt, früher einmal von falschen Polizisten angerufen worden zu sein. Der angebliche Ermittler greift das sofort auf:

„Wann war das, 2018? – „Nein, 2019.“ – „Aha, um Einbrüche in der Nachbarschaft ging es da!“ – „Davon wissen Sie?“ – „Ja, damals wurden mehrere Bandenmitglieder verhaftet.“ – „Ich habe aber von der Staatsanwaltschaft hier einen Brief bekommen, dass in der Sache nichts erreicht wurde!“ – „Es ging ja nicht nur um Sie persönlich!“, sagt er in herablassendem Ton.

Hier greift ein weiterer Mechanismus, der die Betrüger so erfolgreich macht: Sie erschleichen sich das Vertrauen nicht nur, in dem sie sich als staatliche Autorität ausgeben. Sie entführen ihre Opfer auch in eine Scheinwelt, in der die sich aus eigener Erfahrung nicht auskennen, Sphäre der Justiz und der Ermittler. Das lassen sie sie dann auch spüren, deshalb der herablassende Ton: Das Opfer soll nicht glauben, dass es sich besser auskenne als sie, auf keinen Fall aufs eigene Urteilsvermögen vertrauen. Dann geht es wieder ums eigentliche Ziel – ums Geld.

Zurück zum Prozess: Ich müsse unbedingt vertreten werden! Ich soll meine Anwälte hinschicken. Ich müsse nicht dort erscheinen, denn wenn mich jemand sieht, kann etwas hängen bleiben. – Er (aggressiv): „Verstehen Sie das nicht?“ Ich sage: „Jetzt sind Sie sauer!“ – „Nein, Sie sind mir sympathisch.“ – „Sie kennen mich doch gar nicht!“ – „Das höre ich an der Stimme, wir von der Polizei sind schließlich psychologisch geschult.“ Dann sein Vorschlag: Ich zahle 14 000 Euro Kaution, ein Anwalt in der Türkei vertritt mich, die Kaution bekäme ich zurück. Die Kosten des Prozesses würden sich auf mindestens 30 000 Euro belaufen.

„Da hat er mir angeboten, mich aus der Notlage zu befreien“, analysiert das Greitemeyer, „da war er plötzlich wieder der good Cop.“ Im Gespräch schwankten die Betrüger häufiger zwischen Drohungen und Fürsorglichkeit, um sie nicht zu Atem kommen zu lassen.

Doch nun verweigert sie sich, die Geldforderung wirkt wie eine Alarmglocke, sie wird lauter. Ihr Gesprächspartner reagiert sofort und schreit sie an, ob sie die „Sache nicht ernst nähme“, er könne sie gleich für morgen nach Wiesbaden vorladen! Als sie darüber erst mit ihren Söhnen sprechen will, verbietet er es wegen der Verschwiegenheitserklärung, das gefährde nur die Ermittlungen – ein Zirkelschluss.

Ich gerate immer mehr unter Druck, aber dann weiß ich, was ich tun kann: „Ich werde hier zum Polizeirevier gehen!“ – „Nein, das dürfen Sie nicht, Sie gefährden unsere verdeckten Ermittlungen!“ – (Ich denke, das ist doch Unsinn), und sage „Ich frage dort nur nach den zwei Namen!“ – „Lassen Sie das, das wirbelt nur Staub auf! Geben Sie mir 10 Minuten, ich muss das wieder mit dem Staatsanwalt besprechen“.

Der angebliche Appell an die Verantwortung, Ermittlungen im Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch nicht zu gefährden, soll Greitemeyer weiter bei der Stange halten. Nun spielt sich der Betrüger mit einem Komplizen die Bälle zu. Es übernimmt wieder der angebliche „Herr Bachmann“. Er fragt scheinbar besorgt, was denn los sei, und will sie beruhigen. Doch Greitemeyer ist jetzt auf 180: Sie hat genug und sagt:, „Ich will nicht mehr, mir schwirrt der Kopf, ich beende das Gespräch!“ Das tut sie auch – ein Akt der Selbstermächtigung. So holt sie sich die Kontrolle zurück, nach fast 45 Minuten, in denen die Betrüger sie kaum zu Atem kommen ließen. Der Bann ist gebrochen. Aber er wirkt nach: Ganz sicher, dass sie zeitweise einer Illusion aufsaß, ist Greitemeyer erst, als sie den Fall auf dem Tübinger Polizeirevier schildert – und ihr der Beamte dort versichert, dass es die angeblichen Kollegen gar nicht gibt.

Wie aber konnten die Kriminellen ihr so überzeugend ihre betrügerische Scheinwelt aufschwätzen? „Meine Stärke ist doch, dass ich Unstimmigkeiten sofort erkenne“, wundert sich auch Greitemeyer, „die müssen einen genialen Coach haben, einen echten Psychologen.“ Geholfen habe den Tätern, dass sie der Polizei schon ihr ganzes Leben vertraut. Und es dauerte lange, bis die Anrufer zum eigentlichen Punkt kamen: dem Geld. Bis dahin fühlte sie sich bereits eingeschüchtert und in die Enge getrieben. „Die Manipulation war sehr geschickt.“

Die Unterhaltung hatte schnell einen eigenartigen, hypnotischen Sog entwickelt: „Der Verstand wird ein wenig ausgeschaltet, es war wie eine Trance“, erinnert sich Greitemeyer. Dabei gab es Anzeichen, die ihr rückblickend auffallen hätten können: Der Tonfall der Männer am Telefon war eigentlich „zu locker“, gemessen am Ernst der angeblich besprochenen Themen. „So spricht kein Polizist“, ist Greitemeyer überzeugt. Und doch war da immer die Angst im Hinterkopf: Und wenn es doch so ist? Wenn mein Name im Internet aufgetaucht ist? Sie habe sich gefühlt wie ein Fisch am Haken.

Sich loszureißen, ist eigentlich einfach: Auflegen. „Egal, wer sich mit welcher Geschichte meldet: Man sollte immer sagen, dass man die Situation erst mit jemandem besprechen will. Wenn einem das verwehrt wird: Am besten sofort auflegen“, ist die Lehre, die Greitemeyer aus dem Erlebnis zieht. Und sie hat einen praktischen Tipp: „Das kann man auf eine Karte schreiben und neben das Telefon hängen. Daran kann man sich festhalten.“

Fallzahlen und Tipps der Polizei

Im Gebiet des Reutlinger Polizeipräsidiums erbeuteten Telefonbetrüger 2020 insgesamt rund 2,24 Millionen Euro, rund 650000 mehr als im Vorjahr. Von 2877 registrierten Betrugsversuchen waren 108 erfolgreich.

Die Polizei rät prinzipiell, bei Geldforderungen am Telefon misstrauisch zu sein und keinerlei persönliche Daten oder Informationen über finanzielle Verhältnisse herauszugeben. Wenn man den Verdacht hat, an Betrüger geraten zu sein, am besten auflegen und die 110 wählen.

Weitere Hinweise der Polizei gibt es auf www.polizei-beratung.de

Die Reutlinger Polizei hat außerdem ein Video über die Tricks der „falschen Polizeibeamten“ auf ihrer Facebook-Seite unter www.facebook.com/PolizeiReutlingen veröffentlicht.

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Erstellt:
17.04.2021, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 6min 40sec
zuletzt aktualisiert: 17.04.2021, 01:00 Uhr

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