Tübingen · Coronavirus

Höchstgefährdet: „Ich bin ja nicht die Einzige“

Renate Sieblitz-Obermeier ist extrem anfällig für Infektionskrankheiten. Sie braucht jetzt viel Desinfektionsmittel. Doch es gibt nichts mehr.

19.03.2020

Von Ulrich Janßen

Normalerweise nicht ängstlich: Renate Sieblitz-Obermeier.Archivbild: Ulrich Metz

Normalerweise nicht ängstlich: Renate Sieblitz-Obermeier. Archivbild: Ulrich Metz

Seit 24 Jahren leidet Renate Sieblitz-Obermeier an Lupus Erythematodes, einer seltenen unheilbaren Autoimmunerkrankung, die viele Organe befallen und zu Lähmungen führen kann. Die Krankheit zwingt die 64-Jährige dazu, regelmäßig Medikamente zu nehmen, die ihr Immunsystem unterdrücken. „Damit zähle ich“, sagt die Tübingerin, „zu einer höchstgefährdeten Gruppe für das Coronavirus.“

Ohne funktionierendes Immunsystem hat das Virus freie Bahn.

Menschen wie Sieblitz-Obermeier wird deshalb empfohlen, nicht nur regelmäßig die Hände zu waschen, sondern auch Desinfektionsmittel zu verwenden. Türklinken, Sitzbänke, Treppengeländer oder Einkaufswägen: Überall können Erreger lauern. Sieblitz-Obermeier ist nicht ängstlich. Sie setzt auf westliche Medizin, aber auch auf Meditation und die Heilkraft der Natur. Desinfektionsmittel verwendet sie nur, wenn es wirklich nötig ist.

Doch das Coronavirus hat alles verändert. Wenn sie jetzt mit ihrem Mann einkaufen geht, hat sie immer ein Desinfektionsmittel dabei. Bevor sie eine Tür oder einen Einkaufswagen anfasst, sprüht sie. Dass dies in ihrem Fall medizinisch dringend geboten ist, hat sie sogar schriftlich. Ihr Arzt hat ihr den Bedarf per Attest bestätigt. Doch was tun, wenn es das Mittel gar nicht mehr gibt?

Keine Drogerie, kein Supermarkt verkauft noch Desinfektionsmittel. Alles ist weg, und niemand weiß, wann wieder geliefert wird. Auch die Apotheken können ihr nicht weiterhelfen. „Wir haben nichts mehr“, bestätigt uns die Apotheke im Tübinger E-Center, wo Sieblitz-Obermeier regelmäßig einkauft. Theoretisch könnten die Apotheker Desinfektionsmittel selbst mischen. Nötig sind nur Glycerin, Wasserstoffperoxid und Ethanol, ein hochprozentiger Alkohol. Jedoch: „Die Zutaten sind alle nicht mehr lieferbar.“

„Für mich war das wie ein Schlag in die Magengrube“, sagt Sieblitz-Obermeier. Ihre privaten Vorräte gehen zur Neige, weshalb bei Obermeiers inzwischen „Alarmstufe Rot“ herrscht. Im Internet gibt es zwar noch vereinzelt Flaschen zu kaufen, doch ein Liter kostet dort schnell 20 Euro oder mehr. Zuviel für die Tübingerin.

Sieblitz-Obermeier muss mit 700 Euro im Monat auskommen. Sie ist erwerbsunfähig, hat einen Behinderungsgrad von 80 Prozent. Was sie nicht hat, ist ein Pflegegrad, und deshalb ersetzt ihre Krankenkasse ihr die Kosten für Desinfektionsmittel nicht. „Desinfektionsmittel kann man nicht verordnen“, bedauert die IKK Classic auf Anfrage, „sie sind kein Arzneimittel.“

Früher war das kein Problem. Sagrotan war billig, und die geringen Mengen, die sie brauchte, konnte sie privat bezahlen. In Corona-Zeiten aber wächst der Desinfektionsbedarf rasant, eine Flasche ist schnell leer.

Dass die Krankenkasse die Kosten nicht übernimmt, kann Sieblitz-Obermeier nicht verstehen. „Ich fühle mich völlig im Stich gelassen“, sagt sie, „und ich bin ja nicht die einzige, der es so geht. Es gibt viele Menschen mit Immunsuppression.“ Sie fragt sich, warum die Gesundheitspolitiker, die sich auf Epidemien angeblich so gut vorbereitet haben, nicht mal an ausreichend Desinfektionsmittel gedacht haben.