Literatur

Hohe Mauern und tiefe Abgründe

Charlotte Van Den Broeck schreibt in „Wagnisse“ über tragische Bauwerke und ihre Architekten, aber auch über das Scheitern an sich: ein kühnes Buch.

17.06.2021

Von MARCUS GOLLING

Die Kuppel der Kirche San Carlo alle Quattro Fontane in Rom, erbaut von Francesco Borromini. Foto: Imago/image broker

Die Kuppel der Kirche San Carlo alle Quattro Fontane in Rom, erbaut von Francesco Borromini. Foto: Imago/image broker

Ulm. Francesco Borromini (1599-1667) ist der berühmteste Baumeister in „Wagnisse“, aber zu Lebzeiten war er vor allem eines: nicht berühmt genug. Immer hatte sein Rivale Gian Lorenzo Bernini die Nase vorn, Bernini übernahm die Bauleitung des Palazzo Barberini, Bernini wurde Architekt des Petersdoms. Borromini hingegen wurde kritisiert, der ganz in Weiß gehaltene Innenraum seiner Kirche San Carlo alle Quattro Fontane auf dem Quirinal war den prunkverliebten Römern zu karg. An einem Tag im Juli 1667 wütete der gebürtige Tessiner durch sein Atelier, zerstört Vitrinen, zertritt Modelle, zerreißt Skizzen und Pläne. Am 2. August nahm er sich mit einem Säbel das Leben, depressiv und verzweifelt.

Wenn Schriftsteller scheitern, sei es an den eigenen Ansprüchen oder am Markt, bekommt es wahrscheinlich keiner mit. Ganz anders bei Architekten. Deren Werk habe, sagt Charlotte Van Den Broeck an einer Stelle ihres verblüffenden Buches „Wagnisse“, einen deutlich erkennbareren Einfluss auf die Welt. „Außerdem können Bauwerke wenigstens für sich beanspruchen, für die Ewigkeit gemacht zu sein. Ich mache mir da bei meinen Gedichten keine Illusionen.“

Die Belgierin kann aber nicht nur Lyrik, sondern auch Prosa: „Wagnisse“ ist beinahe so kühn konstruiert wie manche der Bauwerke, die Van Den Broeck dafür besucht hat. Die 29-Jährige reiste zu Gebäuden in Europa und den USA, deren Planer sich das Leben nahmen – teilweise auch nur angeblich. Bedeutende Künstler wie Borromini sind darunter. Es finden sich aber auch Gestalten wie George Arthur Crump (1871-1918), der sich mit der Anlage des heute berühmten (und bis vor kurzem nur für Männer gedachten) Golfplatzes Pine Valley im US-Bundesstaat New Jersey ruinierte: Der gesäte Rasen wollte auf dem Sandboden einfach keine Wurzeln schlagen.

Deutsche Ziele fehlen, dafür ist unter anderem die Wiener Staatsoper dabei, heute eine Ikone, zur Bauzeit jedoch als misslungen verspottet. Es ist das Schicksal vieler Künstler, dass sie zu Lebzeiten nicht die Wertschätzung erfahren, nach der sie streben. Der Tod allein, auch der Freitod, hilft freilich nichts: Lamont Young, der Schöpfer der Villa Ebe in Neapel, die Van Den Broeck nur mit großer Mühe findet, ist heute ein noch größerer No-Name als vor 100 Jahren. Borromini ist heute berühmt, ja, aber Bernini ist noch immer berühmter.

„Wagnisse“, in Van Den Broecks Heimat mehrfach preisgekrönt, ist kein Architekturbuch, auch kein Geschichtswerk, sondern eine Chimäre aus Essay und Reisereportage mit starken autobiografischen Elementen: Es geht um die eigene Angst vor dem Scheitern, um das Risiko, das es bedeutet, sich mit der eigenen Kunst an die Öffentlichkeit zu wagen, und darum, wie leicht Perfektionismus zu Wahn wird. Für Van Den Broeck wird die Arbeit an dem Buch zur Besessenheit, das hat Folgen: Ihr Freund sagt einen gemeinsamen Schottland-Urlaub ab, als er entdeckt, dass auf der Reiseroute schon wieder gescheiterte Architekten lauern.

Bis an die eigenen Grenzen

Van Den Broeck spielt mit maximalem Einsatz: „Es gibt keine Zwischentöne. Es gibt nur Vollendung und Scheitern. Das ist immer schon so gewesen bei mir, das ist Gesetz: ein Stock auf der Höhe meines Zwerchfells, unverrückbar, Sieg oder Niederlage.“ Sie kommt dem Absturz ziemlich nah.

Trotzdem ist „Wagnisse“ auch ein informatives Buch, manchmal sogar ein komisches, etwa wenn es um verdrehte Kirchturmdächer geht (ein überraschend häufiges Kuriosum, dringend googeln!), die Autorin kann Architektur wunderbar bildhaft beschreiben und bewältigt die formalen Herausforderungen geradezu beiläufig. Van Den Broecks Wagnis hat sich ausgezahlt, nur nicht unbedingt in ihrer Heimatstadt Turnhout, wo sie durch ihren Erfolg eher unpopulärer wurde. Denn eines der geschilderten Bauwerke ist das dortige, von absurden Pannen geplagte Schwimmbad. Wer wird schon gerne an sein eigenes Scheitern erinnert?

Wagnisse. 13 tragische Bauwerke und ihre Schöpfer. Übersetzt von C. Burkhardt. Rowohlt, 352 Seiten, 26 Euro.   Foto: Rowohlt

Wagnisse. 13 tragische Bauwerke und ihre Schöpfer. Übersetzt von C. Burkhardt. Rowohlt, 352 Seiten, 26 Euro. Foto: Rowohlt

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Erstellt:
17.06.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 54sec
zuletzt aktualisiert: 17.06.2021, 06:00 Uhr

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