Medizintechnik

Hoffnung für Herzkranke

Die Hechinger Medizintechnikfirma NVT bekam den europäischen Innovationspreis und steht kurz vor der europaweiten Zulassung ihrer minimal-invasiven Herzklappen-Implantate.

03.02.2017

Von Susanne Mutschler

Marcos Centola zeigt die von ihm entwickelte künstliche Herzklappe (Trikuspidalklappe). Geschäftsführer Thomas Bogenschütz (Mitte) und Marketingdirektor Andres Förster schauen am Hechinger Vertriebssitz der Firma NVT zu.Bilder: Franke

Marcos Centola zeigt die von ihm entwickelte künstliche Herzklappe (Trikuspidalklappe). Geschäftsführer Thomas Bogenschütz (Mitte) und Marketingdirektor Andres Förster schauen am Hechinger Vertriebssitz der Firma NVT zu.Bilder: Franke

Unter den vier menschlichen Herzklappen ist die Trikuspidalherzklappe die größte und empfindlichste. Wenn sie nicht mehr funktioniert, muss der Brustkorb des Patienten chirurgisch geöffnet werden. „Ältere Patienten können dieses Verfahren nicht verkraften“, erklärte Thomas Bogenschütz, Geschäftsführer der Hechinger Firma „NVT“ (New Valve Technology = Neue Klappentechnologie). Bei Senioren sei die Sterblichkeitsrate während der Operation sehr hoch.

Am Dienstag präsentierte er bei einem Pressegespräch die bei NVT neu entwickelte Prothese einer Trikuspidalklappe (die Segelklappe zwischen rechtem Vorhof und rechter Herzkammer). Sie soll in Zukunft so gefährlichen Eingriffe überflüssig machen. Bogenschütz sprach von einer Weltneuheit und einem Meilenstein in der Herz- und Gefäßtherapie, auf den man seit zehn Jahren hingearbeitet habe. Das faltbare Implantat kann minimalinvasiv über einen Katheder in das menschliche Herz eingeführt werden.

„Es gibt noch keine First-in-Man-Studien“ sagt Bogenschütz. Doch er weiß, dass Patienten, die unter einer Insuffizienz der Trikuspidalklappe leiden, schon jetzt auf die Zulassung der neuen Prothese hoffen. Die soll innerhalb des nächsten Monats kommen. 2016 wurde die Hechinger Firma in Barcelona für ihre künstlichen Trikuspidalklappen mit dem Innovationspreis der Europäischen Gesellschaft für Herz-, Thorax – und Gefäßchirurgie ausgezeichnet. „NVT ist die einzige Firma in Deutschland und eine der ganz wenigen weltweit, die minimalinvasive Herzklappen herstellen“, erklärt der Geschäftsführer.

Das zehnköpfige Hechinger Entwicklerteam arbeitete seit 2007 ausschließlich an passgenauen Implantaten für die degenerationsanfälligen Aorta- und Trikuspidalherzklappen. Betriebsleiter ist der brasilianische Herzklappenexperte Marcos Centola. „Er ist der Erfinder“, betont Bogenschütz. „One minute of inspiration, ten years of transpiration“, erklärt der 63-jährige Ingenieur seinen Erfolg. Damit meint er die langwierigen Detailverbesserungen, Testverfahren und Studien mit Labor- und Tierversuchen, bis aus seiner Idee eine lebensrettende Prothese wird.

2004 hatte Bogenschütz den Tüftler bei einem Kongress in Rio de Janeiro kennengelernt und vom Fleck weg für Hechingen angeworben. 2007 siedelte Centola mit seiner Familie um. Das von ihm entworfene Implantat für die Aortaklappe trägt den optimistischen Namen „Allegra“. 2013 wurde es zum ersten Mal bei einer 84-jährigen Patientin eingesetzt. Diesen „erhabenen Moment“ habe Centola im OP-Saal der Klinik in Bern miterlebt und auch die rasante Genesung der alten Dame beobachtet, die nach wenigen Tagen wieder nach Hause konnte, berichtet Bogenschütz. Inzwischen tragen 80 Patienten, die am Inselspital in Bern oder im Klinikum in Oldenburg behandelt wurden, erfolgreich ein Implantat von NVT in ihrem Herzen.

„Allegra“ ist ummantelt mit einer hauchfeinen Schicht aus reißfestem Rinderperikard (Herzbeutelgewebe). Dieses organische Material kommt aus Argentinien, dem einzig garantiert BSE-freien Land der Welt. Zehn Mitarbeiterinnen nähen das zarte Gewebe „in liebevoller Handarbeit“ mit Hunderten, mit bloßem Auge kaum sichtbaren Stichen rund um das Drahtgestell fest. „Für eine einzige Herzklappe braucht eine Näherin zwei Tage“, bewundert Bogenschütz deren handwerkliches Feingefühl.

Eng zusammengedrückt gelangt „Allegra“ im Herzkatheder zur defekten Aortaklappe und entfaltet sich dort wieder zu voller Größe. „Das Nickeltitan hat einen Memory-Effekt“, erläutert Bogenschütz. Durch die Radialkraft hafte die Prothese an Ort und Stelle.

Eine künstliche Nachbildung für die Trikuspidalklappe zu schaffen, sei eine Herausforderung gewesen, erzählt Centola. Ihre Position im rechten Vorhof des Herzens ist komplizierter als bei der Aortaklappe. Ständig standen die Hechinger Entwickler in Kontakt mit dem Forscherteam um Prof. Christian Schlensak, Ärztlicher Direktor der Uniklinik für Thorax, Herz- und Gefäßchirurgie in Tübingen. Nachdem Centola mindestens 50 verschiedene Modelle ausprobiert und wieder verworfen hatte, gelang ihm 2015 ein erfolgversprechender Prototyp. Das von Hand geformte Modell, ein Gebilde aus Papier und Draht, hat er noch immer auf seinem Arbeitstisch stehen. Die neue Trikuspidal-Prothese hat seitlich ein Ventil, ist faltbar wie Allegra, aber – da sie weniger Druck aushalten muss, mit weichem Schweineperikard ummantelt – einem Abfallprodukt vom Ulmer Schlachthof ummantelt.

2017 könnte diese Implantatneuheit zum ersten Mal am Menschen getestet werden. Im Tübinger Herzkompetenz-Zentrum und bei der Firma NVT ist man darauf vorbereitet. „Es gibt schon ein Lager, wir könnten sofort an die Kliniken liefern“, sagt Bogenschütz.

Die Aortenklappe Allegra ist ein filigranes Krönchen aus einem zarten Geflecht aus Nickeltitan.

Die Aortenklappe Allegra ist ein filigranes Krönchen aus einem zarten Geflecht aus Nickeltitan.

Die Firma hinter der Herzklappen Technik

Entwicklung, Produktion und Vermarktung der neu entwickelten Herzklappen findet ausschließlich im Hechinger Industriegebiet Lotzenäcker statt. Standort der NVT-AG ist Muri im schweizerischen Kanton Aargau. 2007 startete das Unternehmen in Räumen der Medizintechnikfirma Jotec mit Stents für die Gefäßchirurgie. Jotec ist neben den Schweizer Unternehmern Urs Christen (50 Prozent) und Josef Gut (25 Prozent) mit 25 Prozent an der NVT AG beteiligt. Geschäftsführer beider Firmen ist Andreas Bogenschütz. Inzwischen belegt NVT weitere Industriegebäude. Ein Neubau in unmittelbarer Nachbarschaft ist in Planung. Derzeit beschäftigt der Betrieb 33 Mitarbeiter. Mit der europaweiten Marktzulassung könnten es hundert Beschäftigte mehr werden. Bogenschütz rechnet mit jährlichen Zuwachsraten bis zu 18 Prozent. Das Modell Allegra kostet rund 15000 Euro. Die Trikuspidalklappe ist doppelt so teuer. Bis 2020 will die Hechinger Firma auch für die Mitralherzklappe ein Implantat entwickeln sowie für alle Prothesen die passenden Katheder anbieten.

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Erstellt:
03.02.2017, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 33sec
zuletzt aktualisiert: 03.02.2017, 01:00 Uhr

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