An der Seite der Kanzlerin

Hölderlinpreis: Für Herta Müller sind Schreiben und Humanität nicht zu trennen

Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller wurde am Freitagabend im Uni-Festsaal mit dem Hölderlin-Preis von Stadt und Uni Tübingen ausgezeichnet. Die 62-jährige Schriftstellerin durchbrach das Ehrungs-Prozedere mit einer leidenschaftlichen Stellungnahme für Flüchtlinge – und die Kanzlerin.

14.12.2015

Von DOROTHEE hERMANN

„Man kann in Deutschland ungestraft verblöden“, sagte Hölderlin-Preisträgerin Herta Müller im Uni-Festsaal über die Hetze gegen Flüchtlinge. Bild:Rippmann

„Man kann in Deutschland ungestraft verblöden“, sagte Hölderlin-Preisträgerin Herta Müller im Uni-Festsaal über die Hetze gegen Flüchtlinge. Bild: Rippmann

Tübingen. Die Schriftstellerin Herta Müller war 2001 Tübinger Poetikdozentin. Nun ist sie als Hölderlin-Preisträgerin zurückgekehrt. Uni-Prorektorin Prof. Karin Amos, die Müller am Freitagabend vor zirka 450 Interessierten gemeinsam mit Oberbürgermeister Boris Palmer gratulierte, rühmte die virtuose Sprachgenauigkeit der Autorin: Die Intensität ihrer Lyrik verbinde sie mit Friedrich Hölderlin. Die seit 1989 alle zwei Jahre verliehene Auszeichnung ist mit 10 000 Euro verbunden.

Laudator Prof. Jürgen Wertheimer sagte: Herta Müllers „aus Verzweiflungsbruchstücken“ entstandene Bücher machten Angst und bezauberten zugleich. Sie wisse, was es heiße, „unter den Bedingungen der Unterdrückung“ zu schreiben, habe durch „die Schule der Diktaturen“ gehen müssen und sei daran gewachsen. „Tausende andere sind daran zerbrochen.“ Ihre Art des Schreibens, in Notwehrsituationen gegen etwas anzuschreiben, verbinde sie mit Hölderlin.

Beinahe wäre es bei der üblichen Ehrungs-Routine geblieben. Da fragte Wertheimer die Literaturnobelpreisträgerin vorsichtig, ob sie etwas zur Situation der Flüchtlinge sagen möge. Es war, als hätte die Autorin auf dieses Stichwort gewartet. Noch nie habe sie so an der Seite von Bundeskanzlerin Angela Merkel gestanden wie heute, sagte Müller. Der Kanzlerin werde unterstellt, sie sei verantwortlich für die Anzahl der Flüchtenden. „Was für ein hirnverbrannter Gedanke das ist!“, meinte die Autorin, die nun hofft, dass Merkel „über diese Sache nicht stürzt“.

Seltsam, ja unerträglich sei es auch, „dass die osteuropäischen Länder sich jetzt so zusammentun“ gegen die Aufnahme von Asylsuchenden. „Sie haben jahrzehntelang Flucht produziert“, betonte die Schriftstellerin. Nach dem 1956 von den Russen niedergeschlagenen Ungarn-Aufstand hätten 200 000 Menschen das Land verlassen. Nach dem Prager Frühling hätten 400 000 der damaligen Tschechoslowakei den Rücken gekehrt. „Und jetzt tun sie so, als hätten sie mit Flucht nie etwas zu tun gehabt.“

In Syrien sei seit fünf Jahren Krieg, resümierte Müller. In den Straßen explodierten Fassbomben. Wer wolle den Menschen vorwerfen, dass sie davor fliehen, „und vor diesem höllischen Islamismus“? Jungen Männern in Syrien bliebe keine Wahl. „Sie müssen für Assad kämpfen oder für den IS. Wenn sie sich weigern, werden sie verhaftet und umgebracht.“

Auch innenpolitisch ist die Autorin alarmiert: Sie habe nicht erwartet, „dass so viele Deutsche Brandstifter werden“, sagte sie. „Da kippt etwas, mit der AfD und Pegida.“ Sie fragt sich, „wie lange die noch in Dresden auf die Straße gehen und hetzen“. Ein derart abgeschottetes Denken erinnert sie an Osteuropa vor 1989: „In diesen verlassenen Dörfern könnten sie doch froh sein, wenn mal jemand kommt, jemand mit Kindern.“ Müllers Einschätzung fremdenfeindlicher Haltungen: „Man kann in Deutschland ungestraft verblöden.“

1987 aus der Ceausescu-Diktatur nach West-Berlin ausgereist, sieht die Literaturnobelpreisträgerin auch sich selbst in den Flüchtlingen. Wenn jemand am Straßenrand steht, denke sie, „wenn es anders gegangen wäre, hätte es auch so sein können“. Der Wunsch zu fliehen sei in Ceausescu-Rumänien das gemeinsame große Geheimnis gewesen, quer durch alle sozialen Ränge. Dabei herrschte dort kein Krieg – anders als aktuell in Libyen, Syrien, Irak oder Afghanistan. Das Bläserquintett des Landesjugendorchesters gab der Preisverleihung den festlich-musikalischen Rahmen.