Tübingen · 75 Jahre Tagblatt

Heute eine Zeitung gründen: ein Kamikaze-Unternehmen?

„Wenn Sie heute eine Lokalzeitung gründen dürften: Wie würde sie aussehen?“ Das fragten wir fünf sehr unterschiedliche Medienprofis.

21.09.2020

Von Ulrich Janßen

In der Uhlandstraße 2 wurde am 21. September 1945, also vor genau 75 Jahren, das SCHWÄBISCHE TAGBLATT gegründet. Archivbild: Schwäbisches Tagblatt

In der Uhlandstraße 2 wurde am 21. September 1945, also vor genau 75 Jahren, das SCHWÄBISCHE TAGBLATT gegründet. Archivbild: Schwäbisches Tagblatt

Dominik Vona liest keine Zeitung mehr. Der 28-jährige Tübinger ist ein Sänger, der seine Songs selbst schreibt, und inzwischen bundesweit Fans hat, vor allem junge. Auf dem Laufenden hält er sich mit Podcasts, die er meist über Spotify bezieht, und die Namen tragen wie „Fest & Flauschig“ oder „Gemischtes Hack“. Podcasts könne er wunderbar nebenher hören, sagt er, beim Aufräumen oder Autofahren. Beim Zeitunglesen gehe das nicht, da bekomme er schnell das Gefühl, „ich müsste noch was anderes
machen“.

Dominik Vona. Bild: Ulrich Metz

Dominik Vona. Bild: Ulrich Metz

Wenn er in Tübingen ein lokales Medium gründen dürfte, wäre es deshalb keine Zeitung mehr, sondern „eine App, wo mir zu festen Zeiten jemand live in zehn Minuten alles Wissenswerte erzählt“. Wichtig ist dem Sänger, dass es dabei nicht so trocken zugeht, sondern auch Entertainment eine Rolle spielt: „Das lebt natürlich von Leuten, die das können.“ Die Moderatoren sollten möglichst in seinem Alter sein oder zumindest ähnliche Interessen haben. Prinzipiell kann sich Vona aber auch ein Doppel vorstellen mit einem jungen und einem älteren Moderator: „Das fände ich sehr cool.“ Klar ist jedenfalls, die App sollte interaktiv sein, mit Live-Kommentaren oder einem Quiz.

Für den Öschinger Christoph Fasel ist dagegen die gute alte Zeitung bis heute das perfekte Medium. Der 63-jährige ehemalige Stern-Redakteur und Journalistenausbilder, der schon Chefredakteur bei Readers Digest und Bild der Wissenschaft war, arbeitet heute für die Vogel Communications Group, ein Unternehmen, das weltweit Medien herausgibt und Verlage berät. „Ich würde sofort eine Zeitung gründen“, sagt er spontan, „und selbstverständlich eine gedruckte“.

Chr. Fasel. Bild: Anne Faden

Chr. Fasel. Bild: Anne Faden

Die „territoriale Präsentation“ sei bis heute unübertroffen, viele Kommunikationsforscher hätten in Studien bestätigt, dass man Inhalte besser und nachhaltiger aufnehmen könne, wenn sie auf Papier stünden, einem Medium, das man anfassen und riechen kann. Er will auch, dass Profis die vielen Nachrichten einordnen und vermitteln. Allerdings: „Journalisten müssen sehr verständlich und klar schreiben, lakonisch, stilistisch zupackend, mehr übersetzen und sich nicht die Sprache von der Quelle diktieren lassen“, also die komplizierten Formulierungen von Politikern oder Wissenschaftlern einfach übernehmen. Wichtig für Fasel ist auch, dass die Journalisten in seiner Zeitung „Affirmation“ bieten, also nicht nur kritisieren, sondern auch die schönen Seiten des Lebens zeigen. „Old school“ ist Fasel bei den journalistischen Formen: Bericht und Meinung gehören für ihn weiterhin klar getrennt. „Die ganze Bloggerei“, sagt er, „das ist doch kein Journalismus.“

Jessica Sabasch, ist freie Journalistin, sie schrieb unter anderem für die „Zeit“ und die „Stuttgarter Zeitung“, betreute Creativ-Writing-Seminare bei den Tübinger Rhetorikern und: Sie ist Bloggerin. Auf unsere Frage hin machte sie sich erstmal Gedanken über die Finanzierung einer neuen Zeitung: „Das könnte über Crowdfunding laufen oder ein Genossenschaftsmodell.“ Als Geldgeber würden sich die Leser, so Sabaschs Hoffnung, stärker mit der Zeitung identifizieren: „Das würde für Partizipation und Transparenz sorgen.“ Dass die Leser einbezogen werden (und nicht nur Leserbriefe schreiben) ist ihr sehr wichtig. „Ein neues Medium muss nahe dran sein an den Menschen, an der Straße.“

Jessica Sabasch. Bild: Tom Gerhardt

Jessica Sabasch. Bild: Tom Gerhardt

Die 36-Jährige kann sich vorstellen, dass auch mal eine Postbotin, ein Buchhändler, eine Wissenschaftlerin oder eine Marktverkäuferin in dem Medium auftreten, „ideal wäre eine von der Redaktion kuratierte Vielstimmigkeit“. Was die Formate betrifft, da müsse man überlegen, was jeweils am besten passt. „Der Wochengast beim TAGBLATT oder eine Stadtführung könnten doch auch als Podcast großartig funktionieren.“ Ganz auf die gedruckte Ausgabe möchte sie nicht verzichten, aber ihre Zeitung hätte auf jeden Fall mehr Audio- und Videoelemente. „Das muss ja gar nicht alles so perfekt sein.“ Eine Zeitung liefere ganz bewusst „ein niedrigschwelliges Angebot“ an Nachrichten, „da sind ja nicht nur Hochglanz-Veranstaltungen dabei.“

Im Idealfall gelinge es, mit solchen Elementen und mit vielen Interaktionsangeboten auch junge Leute für das Medium zu interessieren. Wie schwer das ist, erlebt sie allerdings in ihren Seminaren: „Wenn ich frage, wer liest Zeitung, melden sich nicht sehr viele.“

Prof. Bernhard Pörksen hat das längst registriert. Der renommierte Medienwissenschaftler will dem TAGBLATT „nicht die Geburtstagsstimmung verhageln“, aber seiner Meinung nach müsste man, wenn man heute eine Tageszeitung gründen wollte, „nebenbei noch die Gesellschaft umkrempeln, die Bildungspolitik neu ausrichten, die laufende Kommunikationsrevolution still stellen und jede Menge junger Leser klonen“. Erst dann scheinen ihm die Erfolgschancen „einigermaßen kalkulierbar“. Die momentane Situation laufe auf ein „merkwürdiges Paradox“ zu. Normativ betrachtet sei der seriöse Zeitungsjournalismus „so wichtig wie nie“, empirisch gesehen aber auch „so gefährdet wie selten zuvor“.

Bernhard Pörksen. Bild: Peter-Andreas Hassiepen

Bernhard Pörksen. Bild: Peter-Andreas Hassiepen

Die Öffentlichkeit sei „fragmentiert unter digitalen Bedingungen“, die Werbemärkte würden „von einigen wenigen Digitalgiganten kannibalisiert“. Dabei taugten die Zeitungen gerade jetzt als „Spagat-Medien“, weil sie „verschiedene Milieus und Perspektiven im Akt der Kommunikation“ verbinden könnten. Sie organisierten und orchestrierten „das große, grummelnde Gespräch einer Stadt“ und wirkten so der Vereinzelung der Perspektiven entgegen. Und dies alles „in einer Zeit, in der die Bullshitter, die Populisten und die Lügner zu den Profiteuren des Wandels gehören und unerwünschte Wirklichkeiten nach Belieben zu Fake-News umdeuten“. Ökonomisch gesehen findet Pörksen eine Zeitungsgründung jetzt zwar „ein ziemliches Kamikaze-Unternehmen“, zugleich aber sei „die Idee der Zeitung aktueller denn je“. Jeder könne für diese Idee übrigens „ohne größere Unkosten eintreten und streiten“.

„Eine Lokalzeitung muss ihre Community kennen und supernah an den Lesern sein“, findet Heidrun Haug, Chefin der Tübinger PR-Agentur „storymaker“. Wenn Haug heute eine Zeitung gründen würde, müsste sie „in einem sehr lesefreundlichen Design“ sehr lokal aus jedem Stadtteil berichten und auch kleine Lesergruppen bedienen.

Heidrun Haug. Ralf Baumgarten;

Heidrun Haug. Ralf Baumgarten;

Haug, deren Agentur inzwischen weltweit Kunden betreut, würde für die spezialisierte Berichterstattung sogar auf „automatische Textgenerierung“ zurückgreifen, also Texte vom Computer verfassen lassen. Denn jeder Minishop, jeder kleine Verein müsse bedacht werden. Aufgabe der Zeitung wäre es, Bürger zusammenzubringen, Service und Handel zu stärken, neue Entwicklungen in der Stadt zu beobachten („Cyber Valley“), und für Transparenz zu sorgen („was geht ab im Rathaus?“).

Gern würde sie auch ein Magazin herausbringen „mit Themen, die alte und neue Tübinger bewegen“. Finanzieren könne man das vielleicht mit „vielen Kleinanzeigen“ und „individualisierten Abo-Modellen“. Eine attraktive Zielgruppe sind für Haug auch „Tübinger, die nicht mehr in der Stadt leben, aber zur Community gehören und einen natürlichen Bezug herstellen zur Welt da draußen“.

Bilder: Peter-Andreas Hassiepen, Tom Gerhardt, Ralf Baumgarten; Anne Faden, Ulrich Metz

75 Jahre und Corona

Wegen der Corona-Pandemie mussten etliche Veranstaltungen zum TAGBLATT-Jubiläum ausfallen. Auch die große Jubiläumsbeilage wurde verschoben: Auf den 17. Dezember.

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Erstellt:
21.09.2020, 00:01 Uhr
Lesedauer: ca. 4min 19sec
zuletzt aktualisiert: 21.09.2020, 00:01 Uhr

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