Die gefährliche Schwellung

Hans-Peter Zenner über das richtige Verhalten bei einem Erstickungsanfall

Notarzt rufen oder nicht? Das war die Frage nach dem Erstickungstod einer 78-Jährigen in einem Tübinger Altenheim. Wir fragten den Direktor der Tübinger Universitäts-Hals-Nasen-Ohren-Klinik, Prof. Hans-Peter Zenner, was man tun sollte, wenn ein Speiserest in der Luftröhre zu Atemnot führt.

11.08.2016

Von ulrich janssen

Symbolbild: pattilabelle - fotolia.com

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Tübingen. Die Seniorin, die bei einem Sommerfest in ihrem Altersheim ein Stück Fleisch in die Luftröhre bekommen hatte, war laut Obduktionsbericht erstickt, obwohl der Fremdkörper entfernt werden konnte. Ihr Fall beschäftigt inzwischen die Tübinger Staatsanwaltschaft, die gegen Mitarbeiter des Heims wegen fahrlässiger Tötung ermittelt. Der Vorwurf ist, dass die Mitarbeiter es versäumt hätten, den Rettungsdienst zu rufen.

Auch viele Unbeteiligte stellen sich seither die Frage, was man eigentlich unternehmen kann, wenn jemand akut Atemnot bekommt. Muss unbedingt ein Notarzt gerufen werden? Und soll man wirklich, wie es im Pflegeheim offenbar geschah, die Betroffene „auf den Kopf stellen“?

Auf diese Frage hat Hans-Peter Zenner eine klare Antwort: Ja. Es sei völlig richtig, sagt der Hals-Nasen-Ohren-Spezialist, die Schwerkraft auszunutzen, wenn ein Speiserest in der Luftröhre steckt. Kinder könne man dazu an den Beinen hochheben, Erwachsene solle man bäuchlings aufs Bett oder eine Couch legen und dann Kopf und Oberkörper deutlich nach unten hängen lassen. Zusätzlich solle man den Betroffenen auf den Rücken klopfen. Alternativ könne man, um den Fremdkörper herauszubefördern, den Betroffenen von hinten komplett umschlingen (die Arme sind dabei unter den Achselhöhlen auf Höhe der Brustwarzen) und dann zweimal kräftig drücken.

Mit einem Luftröhrenschnitt könnten Laien dagegen nur in Filmen Menschen vor dem Ersticken retten. In der Wirklichkeit sei das praktisch unmöglich, da beim Schnitt in die Luftröhre immer die Schilddrüse verletzt werde. Mit der enormen Blutung, die dadurch ausgelöst wird, „kommt ein Laie nicht zurecht“, warnt Zenner.

Die üblichen Erste Hilfe-Maßnahmen seien dagegen bei Erstickungsgefahr äußerst wichtig. Sogar wichtiger noch als das sofortige Herbeirufen des Notarztes, meint Zenner. Denn: „Länger als drei Minuten ohne Atemluft halten normale Menschen nicht aus.“ In drei Minuten aber könne selbst der beste und schnellste Notarzt nicht den Einsatzort erreichen. Und selbst wenn ein Arzt zufällig in der Nähe ist: Wenn die Luftröhre komplett verschlossen ist, sei es „keineswegs sicher, dass der Arzt das Problem lösen kann“. Üblicherweise schiebt ein Mediziner einen Tubus in die Luftröhre, um den Fremdkörper in eine der Lungenhälften zu drücken. Das gelingt oft, aber nicht immer und verlangt jedenfalls viel Erfahrung. Die Universitätsklinik ist auf solch schwere Fälle spezialisiert. „Einige Male im Jahr“, meint Zenner, bringe der Helikopter Patienten mit einem Fremdkörper in der Luftröhre nach Tübingen. In diesen Fällen sei aber die Voraussetzung für die Rettung, dass zumindest noch 10 Prozent der Atmung zur Verfügung stehen.

Laut Obduktionsbericht war die Frau in dem Pflegeheim erstickt, obwohl das Stück Wurst in ihrer Luftröhre nicht mehr zu finden war. Für den Experten ist das, anders als für Laien, kein Widerspruch: Speise- und speziell Wurstreste enthielten nämlich oft Gewürze oder Konservierungsstoffe, die in der empfindlichen Schleimhaut Reizungen und Schwellungen verursachen. So könne man tatsächlich ersticken, obwohl der Fremdkörper schon entfernt wurde.

Gegenüber dem TAGBLATT betonte Zenner aber, dass er nur eine „ganz allgemeine Darstellung“ geben könne, wie man sich bei Erstickungsgefahr üblicherweise verhält, und sich nicht zum speziellen Fall der 78-Jährigen äußern wolle. Denn: „In jedem einzelnen Fall können Bedingungen vorliegen, die man ohne genaue Kenntnis von außen nicht beurteilen kann.“

Ganz allgemein hält es Zenner aber für sinnvoll, nach einer erfolgreichen Erste-Hilfe-Maßnahme einen Notarzt oder eine Notärztin zu rufen. Ein Arzt könne nämlich mit Medikamenten verhindern, dass es zu folgenschweren Schwellungen in der Luftröhre kommt.

Der Hals-Nasen-Ohren-Spezialist appelliert deshalb auch an alle Eltern, unbedingt den Rettungsdienst zu rufen, wenn ein Kind (was relativ häufig vorkomme) sich an einer Erdnuss verschluckt habe. Auch Erdnüsse können nämlich, selbst wenn sie schnell wieder ausgehustet werden, Schwellungen in der Luftröhre verursachen. Das Gleiche gilt für Bienen- oder Wespenstiche im Bereich des Gaumens und der Luftröhre.

Hans-Peter Zenner Archivbild

Hans-Peter Zenner Archivbild