Knackpunkt ist die Sprache

Handwerksbetriebe in der Region bieten 650 Lehrstellen für Flüchtlinge an

Die Reutlinger Handwerkskammer hat in der Region sondiert, welche Betriebe Flüchtlinge ausbilden wollen – 650 Lehrstellen sind so in fünf Landkreisen zusammengekommen.

11.03.2016

Von Matthias Reichert

Muhammad Ahsan Atif aus Pakistan hat im September 2015 seine Ausbildung zum Kfz-Mechatroniker beim Reutlinger Autohaus Menton begonnen. Links Thomas Armbruster, Kaufmännischer Leiter bei Menton. Bild: HWK

Muhammad Ahsan Atif aus Pakistan hat im September 2015 seine Ausbildung zum Kfz-Mechatroniker beim Reutlinger Autohaus Menton begonnen. Links Thomas Armbruster, Kaufmännischer Leiter bei Menton. Bild: HWK

Reutlingen/Tübingen. Muhammad Ahsan Atif hat in Pakistan ein Bachelor-Studium absolviert und dort jahrelang bei Porsche gearbeitet. In seiner Heimat gehört er den Ahmadiyya-Muslimen an, die Glaubensgemeinschaft wird dort als „nichtislamisch“ diskriminiert. Nun ist Atif seit 2012 in Deutschland – und macht seit September eine Ausbildung zum Kfz-Mechatroniker im Reutlinger Autohaus Menton. Parallel paukt er Deutsch. Sein Chef Thomas Armbruster lobt ihn als interessiert und motiviert.

Wenn es nach der Reutlinger Handwerkskammer geht, sollen künftig möglichst viele Flüchtlinge wie Atif eine Ausbildung in der Region machen können. „Wir kommen nicht umhin, uns dieser gesellschaftlichen Aufgabe anzunehmen“, sagt Kammerpräsident Harald Herrmann. Die Reutlinger Kammer hat als eine der ersten bundesweit unter ihren 7500 Ausbildungsbetrieben nachgefragt, wie viele davon Flüchtlingen Ausbildungsplätze und Praktika anbieten wollen.

Im Kammerbezirk, der fünf Landkreise umfasst, sind aktuell mehr als 1600 Lehrstellen frei. 650 davon wollen die Betriebe auch (aber nicht nur) an Flüchtlinge vergeben. Und von 930 Praktikumsplätzen könnten immerhin 450 auch mit Flüchtlingen besetzt werden. „Das signalisiert, dass das Handwerk bereitsteht“, sagt Herrmann.

Doch: „Die Sprache ist das A und O.“ Noch mehr als in der Industrie komme es im Handwerk auf ausreichende Sprachkenntnisse an. Zum einen wegen der Kundenkontakte, zum anderen, um in der Berufsschule mitzukommen. Herrmann erklärt, da sei es kontraproduktiv, wenn ehrenamtliche Helfer den Flüchtlingen perfekte Bewerbungen formulierten – und sich dann herausstelle, dass diese tatsächlich kaum Deutsch könnten.

Die Kammer geht mit gutem Beispiel voran: Seit November belegen jeweils 15 Teilnehmer insgesamt drei Sprachkurse in den Landkreisen Tübingen, Reutlingen und Sigmaringen, die gemeinsam mit den Landratsämtern und Arbeitsagenturen angeboten werden. Allerdings komme ein kleinerer Teil der Flüchtlinge nur unregelmäßig zu den Kursen, klagt Herrmann. Die Kammer will die Flüchtlinge nach den auf zwei Jahren angelegten Sprachkursen in ihrer Tübinger Bildungsakademie mit Schnupperangeboten auf einzelne Berufe vorbereiten. Fünf bis acht Jahre dauere die berufliche Integration, sagt der Präsident voraus.

„Wir müssen sie möglichst schnell zu Steuerzahlern machen“, so Herrmann. Manche Flüchtlinge würden indes lieber gleich Mindestlohn-Jobs annehmen, weil sie in der Ausbildung weniger verdienen: „Sie sind oft stark verschuldet.“ Doch davor warnt der Präsident – denn diese Beschäftigten seien als erste von Entlassungen bedroht, wenn die Wirtschaft schwächelt. Herrmann wirbt bei Politikern dafür, beispielsweise mit zinslosen Darlehen die Differenz zwischen Ausbildungsvergütung und Mindestlohn aufzufangen.

Zentral sei aber, dass das Bleiberecht der Flüchtlinge gesichert und gewährleistet sei, wenn sie ihre Ausbildung oder Praktika beginnen. „Sonst ist das für alle Seiten nur frustrierend.“ Auch über den Asylantrag von Muhammad Ahsan Atif ist noch nicht entschieden – obwohl ihn das Autohaus Menton nach der Ausbildung gerne übernehmen würde.

Wie sich die freien Plätze auf die Landkreise verteilen

Die freien Ausbildungs- und Praktikumsplätze für Flüchtlinge verteilen sich im Kammerbezirk auf die fünf Landkreise Tübingen, Reutlingen, Sigmaringen, Freudenstadt und Zollernalb. Im Kreis Tübingen bieten bis 2017 insgesamt 40 Betriebe 129 Ausbildungsplätze auch für Flüchtlinge an. Im Kreis Reutlingen sind es 246 Plätze in 60 Betrieben. Für Praktika, die auch mit Flüchtlingen besetzt werden können, bieten im Kreis Tübingen 24 Betriebe 81 Plätze an. Im Kreis Reutlingen sind es in 37 Betrieben 186 Plätze. Den vollständigen Überblick gibt es im Internet unter www.hwk-reutlingen.de. Siehe dazu auch die heutige Sonderbeilage im TAGBLATT.