Tübingen

Grundsätzlicher

Unter dem Titel „Minderheit bestimmt, was Mehrheit lesen darf“ kommentierte auch Boris Palmer die Winnetou-Debatte (17. September).

29.09.2022

Von Gerhard Oberlin, Tübingen

Bravo, Herr Palmer, auch ich habe Karl May gelesen, alle Bände (und bin trotzdem Kulturwissenschaftler geworden). Die Problematik der Sprachregelung sehe ich noch etwas grundsätzlicher unter dem Aspekt der „Wohlstandsverwahrlosung“, wie sie mit Mündigkeitsverlust einhergeht. Eine saturierte Gesellschaft wie die unsrige leidet unter ihrer Passivität, dem Mangel an Kreativität und Selbstwirksamkeit, der sozialen Indolenz. Einschränkungen der kognitiven Mobilität und Objektivierungsfähigkeit bis hin zum Realitätsverlust folgen auf dem Fuß.

Sorglosigkeit und Überfluss tragen neben der politischen Indifferenz und Demokratiemüdigkeit zu dem bei, was der Kulturhistoriker Johan Huizinga einst „Puerilisierung“ nannte. Günther Anders, der ähnlich von „Infantilisierung“ sprach, diagnostizierte in der Summe die „Hoffnungslosigkeit des Schlaraffendaseins“ und wies damit auf die psychische Verfasstheit einer Gesellschaft hin, die keine materielle Herausforderung mehr bestehen, keine zukünftige Bedrohung mehr sehen will und sich zum Zeitvertreib mit Genüssen und künstlichen Abhängigkeiten stimuliert, zu denen ihre Selbstgerechtigkeit und die Forderung nach einem totalen Sozialstaat gehört.