Tübingen · Gäste der Woche

Hagar Steiff und Bettina Koschtjan: Grüß Gott, Hallo, Guten Tag als Lebensgefühl

Hagar Steiff und Bettina Koschtjan wollten helfen, schnell und unbürokratisch. Nun haben sie ein Projekt auf die Beine gestellt, das einerseits den Tübinger Tafelladen, andererseits regionale Erzeuger unterstützt.

16.12.2022

Von Lisa Maria Sporrer

Bettina Koschtjan (links im Bild) und Hagar Steiff hatten die Idee für ein Projekt, für das die TAGBLATT-Weihnachtsspendenaktion nun Geld sammelt. Bild: Ulrich Metz

Bettina Koschtjan (links im Bild) und Hagar Steiff hatten die Idee für ein Projekt, für das die TAGBLATT-Weihnachtsspendenaktion nun Geld sammelt. Bild: Ulrich Metz

Grüß Gott, sagte Hagar Steiff zu den Menschen, die ihr des Weges begegneten. Jedem nickte sie freundlich zu. „Grüß Gott“, „Grüß Gott“, „Grüß Gott“. Aber sie kam nicht mehr hinterher, so viele Menschen und keiner grüßte zurück. „Das fühlt sich falsch an“, dachte sie sich. München war nicht ihre Stadt, ein Streifen Himmel, verstellt von hohen Häusern. Zu groß für sie, zu unpersönlich. „In Kilchberg grüßt man sich eben. Wir sind hier so aufgewachsen“, sagt Hagar Steiff.

„Grüß Gott“, „Hallo“, „Guten Tag“, sagt man auf Dörfern, auch zu Fremden. Für Hagar Steiff bedeutet das mehr als Höflichkeit. Für sie ist das ein Lebensgefühl, Ausdruck von Zusammengehörigkeit, von Interesse. „Und das bedeutet auch ein Stück weit Verantwortung“, ergänzt Bettina Koschtjan. Dass man sich kümmert. Etwa, wenn der Nachbar nicht zuhause ist und dort der Feuermelder angeht.

Hagar Steiff und Bettina Koschtjan kennen sich aus Kindertagen. Aus der Grundschule. Vom Spielen auf der Straße. Kilchberg, da kennt man sich eben. Kilchberg, ein Lebensgefühl. So könnte man sich das Engagement herleiten, das die beiden Frauen nun an den Tag legen. Vor sechs Wochen stand die Pferde-Tierfachärztin Steiff im Büro der Ortsvorsteherin Koschtjan. Nicht von Freundin zu Freundin, ganz offiziell. Die Angst vor dem medial dauerpräsenten Krisenwinter, Berichte über diejenigen, die die Energiepreise in Existenznöte bringt – der Krieg rückte unabsichtlich diejenigen ins Licht, die es ohnehin schon nicht leicht haben. Und an die dachte Hagar Steiff, als sie bei der Ortsvorsteherin vorstellig wurde. Denen wollte sie helfen. Schnell und unbürokratisch. Aber dafür brauchte sie Hilfe, weil sie das als Privatperson nur im Kleinen schaffen würde. Die Hilfe aber, die ihr vorschwebte, sollte vielen Menschen helfen.

Wer mehr hat, gibt denjenigen etwas ab, die nicht so viel haben – das ist die Idee von Hagar Steiff und Bettina Koschtjan; Das ist die Idee, die hinter Spendenaktionen generell steht. Erfahrung haben die beiden Kilchbergerinnen damit keine. Hagar Steiff wusste nur: Sie konnte nicht als Privatperson Geld einsammeln und verteilen.

Das Projekt „Soziale Gerechtigkeit durch Bürgerinnen und Bürger“, das sie dank des Vereins Pro Kilchberg ganz offiziell starten konnten, wurde im Ort schon vor Wochen zu einem Erfolgsmodell. Menschen drückten den beiden Geld in die Hand, so konnten Steiff und Koschtjan bei regionalen Erzeugern Lebensmittel einkaufen, die sie zur Tafel brachten. Sie wollen, dass jeder gespendete Cent auch wirklich bei den hilfebedürftigen Menschen ankommt. Und der Tafel direkt zu spenden, erschien den beiden nicht sinnvoll, weil die Tafel, die sich als Lebensmittelretter versteht, selbst keine Waren einkauft. Außerdem kommt das Geld so auch den regionalen Erzeugern zugute, die es momentan ebenfalls nicht leicht haben.

„Unsere Idee war es eigentlich, dass wohlhabendere Menschen ihre Energiepreispauschale oder andere staatliche Zahlungen, die sie nicht dringend benötigen, so den Menschen geben können, die wirklich darauf angewiesen sind“, sagt Steiff. Die Resonanz auf die Aktion und die Rückmeldungen, die sie bekommen, haben sie eines besseren belehrt. „Da kam eine Frau, die selber eigentlich nichts hatte und gab uns Geld für das Projekt“, sagt Koschtjan. Gerührt hat sie das, beide. Weil das nur ein Beispiel von vielen war.

Reiche, die Mittelschicht, arme Menschen – alle wollen helfen, so, wie sie es können. „Das bedeutet für uns Gemeinschaft“, sagen beide. Gemeinschaft – ja, auch das sei ein Lebensgefühl. „Es ist uns wichtig zu sagen, wie toll wir von allen unterstützt werden“, sagt Koschtjan. „Dadurch sind wir so motiviert“, sagt Steiff. „Das zeigt uns auch, dass es richtig ist“, sagt Koschtjan. „Vielleicht hat das auch ein neues Bewusstsein hervorgerufen“, sagt Steiff. Es wirkt fast, als würden sich Hagar Steiff und Bettina Koschtjan ihre Sätze gegenseitig beenden wollen.

Immer wieder beginnen sie sich beim Redaktionsgespräch zu unterhalten, wie zwei Freundinnen, wie zwei, die genau wissen, was die andere meint. Als es um die Definition von wohlhabend geht etwa. Beide haben ein eigenes Haus, beide haben einen Beruf. Ja, das kann man wohlhabend nennen, sagen sie. Beide aber sparen Energie, beide schöpfen nicht aus den Vollen. Mindesthaltbarkeitsdatum bei Lebensmitteln: „Meine Güte“, sagt Steiff, „wir haben unserer Tochter immer beigebracht an den Lebensmitteln zu riechen. Weggeworfen wird nichts, wenn es nicht schlecht ist.“ Alle zwei Jahre ein neues Handy? Ein Urlaub für 5000 Euro? „Diese Ich-brauch-das-Mentalität, ich kanns mir leisten – das ist gar nicht meins“, sagt Koschtjan. Schließlich kennt sie auch andere Zeiten, Sorgen mit der Selbständigkeit, die Frage, wie das Landschulheim für die Kinder zu bezahlt werden kann.

Weitermachen wollen sie mit der Aktion, solange das Geld reicht. „Unser Ziel war es, den Winter über jede Woche Waren zur Tafel fahren zu können“, sagt Steiff. „Aber dieser Hilfsbereitschaftsfunke, der jetzt entbrannt ist, wird so schnell wohl nicht erlöschen“, freut sich Koschtjan. Und schließlich wird die Krise für viele nicht mit dem Winter beendet sein.

Hagar Steiff

1968 in Kilchberg geboren

1988 Abitur an der Tübinger Geschwister-Scholl-Schule

1988 bis 1994 Studium Tiermedizin in München, anschließend Anstellung in der Pferdeabteilung der Chirurgischen Tierklinik der LMU München, Doktorarbeit

1996 bis 2007 Pferdeklinik in Kirchheim unter Teck

Seit 2007 selbständig mit einer Pferdepraxis

Hagar Steiff ist verheiratet und hat eine Tochter

Bettina Koschtjan

1967 in Herrenberg geboren, 1974 Umzug nach Kilchberg

1986 bis 1989 Ausbildung zur Groß- und Einzelhandelskauffrau, anschließend Anstellung bis 1991. Dann half sie ihrem Vater, der in Kilchberg einen Baustoffhandel hatte. Schließlich unterstützte sie ihren Mann im Getränkehandel samt Postfiliale

Seit 2015 wieder zurück in ihren alten Beruf

Seit 2019 Ortsvorsteherin Kilchberg

Bettina Koschtjan ist verheiratet und hat zwei Söhne

Zwei Projekte brauchen Unterstützung

Hagar Steiff und Bettina Koschtjan: Grüß Gott, Hallo, Guten Tag als Lebensgefühl

Spenden können Sie auf das TAGBLATT-Konto bei der Kreissparkasse Tübingen (IBAN: DE94 6415 0020 0000 1711 11). Vermerken Sie, wenn Sie eine Spendenquittung benötigen, und fügen in diesem Fall Ihre vollständige Adresse hinzu. Bei Beträgen bis 300 Euro akzeptiert das Finanzamt einen Kontoauszug. Wollen Sie ein bestimmtes Projekt unterstützen (Projekt 1 „Kinder im Intensiv-Delir“ oder Projekt 2 „Tafel“), bitten wir um einen entsprechenden Vermerk. Gemäß Art. 13 DSGVO sind wir verpflichtet, darauf hinzuweisen, dass wir Name, Adresse und Spendenbetrag der Leser und Leserinnen, die eine Spendenbescheinigung wünschen, an die begünstigten Organisationen übermitteln.

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Erstellt:
16.12.2022, 18:30 Uhr
Lesedauer: ca. 4min 13sec
zuletzt aktualisiert: 16.12.2022, 18:30 Uhr

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