Leitartikel · Koalition

Großes wäre möglich

Am Wahlabend der Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz vor drei Wochen verkündete SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz noch fröhlich bei „Anne Will“ in die Runde, dass es jetzt in „Deutschland eine Mehrheit ohne die Union“ gebe. Es gab sie tatsächlich – doch dort, wo nach fünf Jahren grün-schwarzer Koalition das Projekt einer Ampel hätte gestartet werden können, blieben die Signale auf Rot.

06.04.2021

Von ULRICH BECKER

Stuttgart/Berlin. Nichts wird aus der politischen Alternative, von der sich nicht nur Scholz einen Schub für den Bund gewünscht hätte, einen Neubeginn nach 16 Jahren Merkel-Regentschaft.

Es wäre zu einfach, dies nur auf die Beharrlichkeit des baden-württembergischen Landesvaters zu schieben. Winfried Kretschmann mag Neuerungen gegenüber skeptisch sein, doch er ist lange genug im Geschäft, um politische Signale richtig zu deuten. Dem Aufstand der Basis gegen die Fortführung der unpopulären Verbindung mit den Konservativen hat er nicht nur aus Sturheit widerstanden. Die Zweckehe mit der CDU birgt für die Ökopartei mehr Chancen, als viele glauben – im Land wie im Bund.

Lange Zeit schien es schier unglaublich, dass Grüne und CDU ein Bündnis eingehen könnten. Für die grüne Basis, zumal für die sogenannten Fundis, verkörperten die Christdemokraten alles, was sie politisch bekämpfen wollten: unökologisch, auf Wirtschaft fokussiert, gesellschaftspolitisch rückständig, beherrscht von alten weißen Männern. Die Ära von Angela Merkel ließ dieses Feindbild bröckeln. Der Atomausstieg 2011 machte die Union in Umweltfragen zum möglichen Partner, die Haltung in der Flüchtlingsfrage 2015 ließ viele Grüne zu Merkelfans werden. Gleichzeitig veränderte der baden-württembergische Realoschub die Partei grundlegend. Die Grünen zog es weg von der linken Trittinpolitik hin zum Kretschmannstyle – ein konservativer, katholischer Schwabe, der Ökologie und Ökonomie versöhnen wollte. Mit dieser Haltung gab es plötzlich einen für unerreichbar geglaubten Wählerzuspruch – die Mitte garantierte neue Macht. Die Wahl der Superrealos Annalena Baerbock und Robert Habeck an die Parteispitze war die logische Konsequenz dieser Entwicklung.

Was Teile der Basis nicht wahrhaben wollen, Kretschmann aber längst erkannt hat: Die grünen Wähler, zumal die neu gewonnenen, leuchten nicht mehr hell-, sondern längst dunkelgrün. Sie rekrutieren sich aus einem Umfeld, das sich zwar ökologische Erneuerung wünscht, die bestehenden Verhältnisse aber in keiner Weise in Frage stellt. Dieses Klientel hat mit SPD-Vordenkern wie Kevin Kühnert und seinen Verstaatlichungsträumereien soviel gemein wie die FDP mit den Linken.

Es gibt zwar zurzeit eine Mehrheit ohne die Union in Deutschland – aber ein großer Teil der grünen Wähler träumt nicht von dieser Alternative. Ganz im Gegenteil: Sollten beide Partner – Grüne wie Union – erkennen, dass sie nicht der Zweck, sondern politische Vernunft oder gar eine Vision für dieses Land verbinden könnte, wäre etwas Großes möglich. Und nach der Corona-Krise bitter nötig.

leitartikel@swp.de

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Erstellt:
06.04.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 13sec
zuletzt aktualisiert: 06.04.2021, 06:00 Uhr

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