Streaming

Großes Kino aus dem Internet

Der Markt für Online-Filme wird durcheinander gewirbelt. Amazon schluckt das traditionelle Studio MGM. Gibt es James Bond künftig nur noch vor dem Computer zu sehen?

12.06.2021

Von Thomas Veitinger

Spaß vor dem Computer-Bildschirm. In Pandemiezeiten oft ein gewohntes Bild. Foto: ©Drazen Zigic/Shutterstock.com

Spaß vor dem Computer-Bildschirm. In Pandemiezeiten oft ein gewohntes Bild. Foto: ©Drazen Zigic/Shutterstock.com

Ulm. Dieses Tier kennen wohl alle: Der vor Filmen von Metro-Goldwyn-Mayer (MGM) brüllende Löwe Leo. Das Raubtier reißt künftig seinen Rachen für Amazon auf. Das Online-Kaufhaus hat das 1924 gegründete Filmstudio für umgerechnet 6,9?Milliarden Euro gekauft. Rechte an Hollywood-Klassikern wie „Mata Hari“, „Das Schweigen der Lämmer“ und Serien wie „Fargo“ gehen an den Internet-Riesen über. 4000?Filme könnten künftig nur noch gestreamt in „Amazon Prime Video“ zu sehen sein.

Die zweitgrößte Übernahme des Unternehmens – nach dem Kauf der Bio-Markt-Kette Whole Foods 2017 für 11,3?Milliarden Euro – hat laut Experten vor allem einen Grund: beim Streaming vorne mit dabei zu sein. Prime-Kunden, die seltener Porto zahlen und andere Vergünstigungen erhalten, bringen generell mehr Umsatz.

Amazons Filmangebot galt im Vergleich mit dem großen Rivalen und Branchen-Primus Netflix bislang als schwach. Zwar hat der Internet-Verkäufer in jüngster Zeit Geld für Filme wie „Der Prinz aus Zamunda 2“, die extrem kostspielige „Herr-der-Ringe“-Serie und Sportrechte ausgegeben. Doch das reicht nicht – weil die Konkurrenz nicht schläft. So fusioniert der US-Telekomriese AT&T sein Mediengeschäft mit dem Streaminganbieter Discovery, der Sender in 220 Ländern betreibt, darunter Eurosport und den Streamingdienst Discovery Plus. Fox-Eigentümer Rupert Murdoch schnappte sich den werbefinanzierten Streamingdienst Tubi. Dazu machen Gerüchte die Runde, die von der Bank of America befeuert werden, dass ViacomCBS zum Verkauf stehe.

Das MGM-Logo. Foto: MGM/dpa

Das MGM-Logo. Foto: MGM/dpa

Disney hat es mit seinem Angebot Disney+ in rekordverdächtiger Zeit auf 103?Millionen Abonnenten gebracht. Dabei gab der Anbieter beim Start 2019 nur das Ziel von 60 bis 90?Millionen Zahlender bis 2024 vor. Amazon Prime Video hat nach eigenen Angaben rund 175?Millionen Zuschauer, Branchenprimus Netflix kommt auf etwa 208?Millionen.

Netflix wirft sich ebenfalls in die Riemen. Zwar ist das Unternehmen ein großer Corona-Gewinner. Doch ihm gehen wegen verhinderter Dreharbeiten durch die Pandemie langsam die Inhalte aus. Eigenroduktionen wie „Damengambit“ und „Stranger Things“ werden rar, Filmrechtebesitzer verkaufen weniger. Streaming-Experten sprechen von einer regelrechten Dürre exklusiver Inhalte, die Kunden heute erwarten.

Der Markt für online abrufbare Filme ist hart umkämpft. „Es gibt drei, vier große Streaming-Dienste“, sagt Gründer und Chef des Analysehauses Veed Analytics Bernd Riefler, „wer weiter hinten ist, hat es schwer“. Auch, weil Kunden nicht beliebig viele Dienste abonnieren. „Wer heute wirklich alle Filme und Serien im Internet anschauen wollte, der müsste wahrscheinlich sieben bis acht Streamingdienste gleichzeitig abonnieren und dafür fast 100 Euro pro Monat ausgeben. Das ist unrealistisch“, bestätigt Experte Alexander Kuch vom Telekommunikationsportal Teltarif. Bei drei oder vier ist Schluss – selbst in den konsumfreudigen USA.

Wer sich Inhalte aussuchen will, ist bei Streaming-Suchmaschinen wie justwatch.com oder werstreamt.es gut aufgehoben. Diese zeigen auf einen Blick, wo welche Filme laufen. Das Angebot ist breit gefächert. Manche Film-Fans sind ständig am bestellen und kündigen von Anbietern. Bündelangebote wie in Frankreich aus Netflix, Amazon Prime und Disney+ sind selten.

Deutsche Streamingdienste wie TVNow haben es schwer. RTL darf den bisher gemeinsam mit der Walt Disney Company betriebenen deutschen Kinder- und Familiensender Super RTL komplett übernehmen und so sein Streaming-Wachstum befeuern. Wobei Deutschland traditionell durch die starken öffentlich-rechtlichen Sender als schwieriger Markt für Bezahlinhalte gilt. Allerdings hat Netflix in den vergangenen fünf Jahren viele Dämme gebrochen, sind sich Experten einig. Mit knapp 11?Millionen Zuschauern liegt der Anbieter in Deutschland aber nur auf Platz 2. Amazon Prime versorgt 14,6?Kunden mit Filmen, hat Ampere Analysis aus Londen herausgefunden. Disney+ kommt hierzulande auf 2,7 Millionen Zuschauer. Deutschland ist für Streaming-Anbieter immer noch die Nuss, die es zu knacken gilt, weiß Riefler.

Die erfolgreiche Internet-Firma Amazon verleibt sich das nicht mehr erfolgreiche gute alte Hollywood ein. Foto: obs/Amazon.de

Die erfolgreiche Internet-Firma Amazon verleibt sich das nicht mehr erfolgreiche gute alte Hollywood ein. Foto: obs/Amazon.de

„Es gibt in der Branche Wellen der Konsolidierung, die meist von der Börse getrieben sind“, sagt der Experte. Interessant sei, auf welchen Plattformen sich künftig die Filme wiederfinden. Bei Apple, Google, Amazon? Die Deutsche Telekom hat Partnerschaften mit Disney+, Dazn und dem RTL-Streamingdienst TV Now abgeschlossen. Vodafone dagegen kooperiert mit Discovery. Dies bringt auch länger laufende Abos etwa von einem Jahr mit sich. Netflix und Co. halten ihrer monatlichen Kündigungsfrist fest, weil sie kundenfreundlich sein wollen und die Konkurrenz auch nicht davon abweicht.

Mit MGM ersteht Amazon auch die Hälfte der Rechte an James-Bond-Filmen. Dabei befürchten Fans künftig weichgespülte und kommerzialisiertere Handlungen. Auch über mehr Science-Fiction-Elemente in den Agentenfilmen wird spekuliert. Sicher ist das nicht, weil immer noch ein Geschwisterpaar bei den Geschichten über den Doppelnull-Agenten das Sagen hat.

Was aus dem Kino in der Nach-Corona-Zeit wird, ist ebenfalls nicht ausgemacht. Haben sich jetzt alle Film-Interessierte an das heimische Streaming gewöhnt und werden den Weg in die Filmsäle scheuen? Wird das „Vip-Angebot“ von Disney+, bei dem für aktuelle Filme 21,99 Euro zusätzlich zum Abo-Preis gezahlt werden muss, Schule machen? Brancheninsider glauben, dass es Kinos immer geben wird, möglicherweise aber nicht mehr so viele: Das Kino dürfte nicht sterben; einige Kinos aber schon.

Rekordzahlen in China

Für Experte Tom Brueggeman lässt sich die Zukunft von Kino und Streaming nicht voraussagen: „Jeder, der sagt, was genau passieren wird, folgt entweder einem bestimmten Interesse oder ist naiv.“ In China werden in der Kinobranche schon wieder Rekordzahlen geschrieben – trotz Streamingbooms. Regisseur Kilian Riedhof sehnt sich jedenfalls nach der langen „nächtlichen Einsamkeit im endlosen Supermarkt von Netflix“ nach „kollektiv erlebter Emotion, nach Diskussion, nach Kontroverse, nach einer politischen Identität.“

Zwar erinnern die immer erfolgreicheren Streaming-Dienste an die 50er Jahre, als sich mehr und mehr Haushalte ein Fernsehgerät anschafften und viele deshalb das Ende des Kinos befürchteten. Hollywood reagierte damals mit der Erfindung des Monumentalfilms: große, mit enormem Aufwand hergestellte Produktionen wie „Ben Hur“, der seine Wirkung auf riesigen Leinwänden entfaltete – und heute Amazon gehört.

Großes Kino aus dem Internet

Zum Artikel

Erstellt:
12.06.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 55sec
zuletzt aktualisiert: 12.06.2021, 06:00 Uhr

Artikel empfehlen

Artikel Aktionen

Sie möchten diesen Inhalt nutzen? Bitte beachten Sie unsere Hinweise zur Lizenzierung.

Push aufs Handy

Die wichtigsten Nachrichten direkt aufs Smartphone: Installieren Sie die Tagblatt-App für iOS oder für Android und erhalten Sie Push-Meldungen über die wichtigsten Ereignisse und interessantesten Themen aus der Region Tübingen.

Newsletter


In Ihrem Benutzerprofil können Sie Ihre abonnierten Newsletter verwalten. Dazu müssen Sie jedoch registriert und angemeldet sein. Für alle Tagblatt-Newsletter können Sie sich aber bei tagblatt.de/newsletter auch ohne Registrierung anmelden.
Das Tagblatt in den Sozialen Netzen
    
Faceboook      Instagram      Twitter      Facebook Sport
Newsletter Prost Mahlzeit
Sie interessieren sich für gutes und gesundes Essen und Trinken in den Regionen Neckar-Alb und Nordschwarzwald? Sie wollen immer über regionale Gastronomie und lokale Produzenten informiert sein? Dann bestellen Sie unseren Newsletter Prost Mahlzeit!