Bergung nach dem Brand: „Wir sind sehr erleichtert“

Große Teile des Archivs der Kulturwissenschaftler konnten aus der Biesingerstraße gerettet werden

Damit hatten die Wenigsten gerechnet: Das umfangreiche Archiv der Tübinger Empirischen Kulturwissenschaft ist entgegen den ersten Befürchtungen nicht komplett verloren gegangen.

31.03.2017

Von Ulrich Janßen

In dieser Woche konnten Bergungsspezialisten erstmals in das abgebrannte Gebäude in der Biesingerstraße eindringen, in dem das Archiv untergebracht war, und die Räume sichern. Anschließend holten Experten zahlreiche Dokumente aus dem Haus. Der 1910 errichtete Bau war in der vergangenen Woche von einem unerlaubt dort wohnenden Psychologen in Brand gesetzt worden.

Die gut ein Dutzend Mitarbeiter des Tübinger Ludwig-Uhland-Instituts für Empirische Kulturwissenschaft (LUI), die bei der Bergung halfen, entdeckten zu ihrer Überraschung, dass viele Archivmaterialien den Brand und die Löschaktion gut überstanden hatten: „Wir sind sehr erleichtert“, erklärte Sabine Müller-Brem, Kustodin des Instituts-Archivs, dem TAGBLATT. Insgesamt hätten drei Tonnen Archivmaterial geborgen werden können.

Gerettet werden konnten rund 500 Tonbänder des Arno-Ruoff-Archivs, das Sprache und Dialekt der Fünfziger Jahre dokumentiert. Erhalten blieben außerdem das Zeitungsarchiv, 600 Ordner des LUI-Projekt- und Institutsarchivs sowie aktuelles Forschungsmaterial des renommierten Kulturwissenschaftlers Prof. Hermann Bausinger: „Wir konnten Unterlagen aus dem Nebenzimmer von Bausingers Büro bergen“, erklärte Müller-Brem. In der kommenden Woche will der Kulturwissenschaftler Ulrich Hägele versuchen, von einem Kran aus über eine Gondel weiteres Material aus Bausingers Büro zu retten. Dauerhaft verloren seien gut 2000 Fachbücher sowie das Ton- und Filmarchiv des Archivs, das unter anderem Unterrichtsfilme aus den Fünfziger Jahren enthielt.

Müller-Brem betonte, dass in der LUI-Außenstelle „keineswegs nur alter Plunder“ lagerte. Das Archiv erinnere die Kulturwissenschaftler daran, „wo wir herkommen, wie wir uns verändert haben und wo wir stehen“. Es sei enorm wichtig „für die Identität unseres Fachs“. Die Freude über die weitgehend gelungene Rettung des Archivs sei kaum „in Worte zu fassen“, meinte Müller-Brem.

Nirgendwo in Deutschland sei die Entwicklung von Volkskunde und Kulturwissenschaft so gut dokumentiert wie in Tübingen. Volkskundler seien von Natur aus Sammler. Entsprechend lagerten in der Biesingerstraße „Grundelemente unseres wissenschaftlichen Tuns.“ Und die würden gebraucht. Derzeit etwa erforsche ein Wissenschaftler für seine Promotion die Geschichte des Fachs. „Er nutzt das Archiv intensiv.“

Ein großer Teil der geborgenen Sammlung ist unversehrt. Er wird bis auf weiteres in einer alten Lagerhalle untergebracht, die die Aufzugsfirma Schmitt und Sohn in Hirschau zur Verfügung stellte. Schriften, die vom Löschwasser beschädigt wurden, sind nach Kornwestheim transportiert worden. Dort werden sie von den Konservatoren der Firma Schempp gefriergetrocknet und gegebenenfalls restauriert.

Bergung über das Erdgeschoss

Um in das Gebäude vorzudringen, erstellten Mitarbeiter des Tübinger Amts für Vermögen und Bau zunächst zusammen mit Spezialisten einer Bergungsfirma ein Bergungskonzept. Die Experten rissen Giebel, Dachstuhl und weitere einsturzgefährdete Mauern ab. Anschließend stützten sie in einzelnen Räumen die Decken ab und errichteten Außengerüste. Über einen völlig ausgebrannten Raum im Erdgeschoss drangen die Experten dann in das Gebäude ein. Für die Kustodin, die das Tübinger Archiv der Alltagskulturen verwaltet, war die Bergung eine neue Erfahrung. Sabine Müller-Brem: „Das war Learning by doing, es musste ja ganz schnell gehandelt werden.“