Russland

Gleichung mit Unbekannten

Der WM-Gastgeber geht als krasser sportlicher Außenseiter in das Turnier. Wegen fehlender Spielideen baut das Team auf die Unterstützung der Fans.

14.06.2018

Von STEFAN SCHOLL

Kein Sprintwunder: Wladimir Granat. Foto: afp

Kein Sprintwunder: Wladimir Granat. Foto: afp

Der Gastgeber geht bei der Fußball-WM in Russland als Antifavorit an den Start. Das liegt an fehlenden Spielideen, der chaotischen Nachwuchsarbeit der 90er Jahre, aber auch an der Ausländerquote im russischen Profifußball. Doch Wladimir Putin predigt patriotischen Optimismus: „Wir bauen darauf, dass unsere Mannschaft bei der bevorstehenden WM durchstartet“, sagte der Präsident vor dem Eröffnungsspiel heute (17 Uhr MESZ/ARD) gegen Saudi-Arabien.

Die russische Fußballöffentlichkeit rätselt, welche Eigenschaften ihr Team überhaupt besitzt. „Diese Mannschaft stellt eine Gleichung dar, die nur Unbekannte hat“ klagt die Zeitung Trud. Tatsächlich geht Russland als krasser sportlicher Außenseiter ins Turnier. Sieben sieglose Spiele in Folge, in den letzten beiden Vorbereitungsspielen gegen Österreich und die Türkei nur ein einziger Torschuss – prompt hagelt es Häme gegen Trainer Stanislaw Tschertschessow.

„Eine Spielidee ist nicht zu erkennen“, klagt Igor Rabiner, Fußballexperte der Zeitung Sport Ekspress. „Das deutlichste Element ist noch das Pressing.“ Aber der Plan hinter diesem Pressing sei primitiv bis zur Hässlichkeit, schimpft die Internetzeitung gazeta.ru: Den Ball möglichst nah am fremden Tor abzufangen, mit möglichst wenig Gegnern davor, damit die russischen Stürmer irgend etwas draus machen? – dies klingt nicht nach dem technisch starken Kombinationsspiel, mit dem die sowjetische Sbornaja einst glänzte. Wenn schnelle und ballsichere Gegenmannschaften das russische Pressing aushebeln, treffen sie nicht unbedingt auf die flinkeste Abwehr dieser WM.

Nachdem Tschertschessow jahrelang mit drei Innen- und zwei Außenverteidigern spielen ließ, wechselte er vor einigen Wochen überraschend zu einer Viererkette. Um die verletzten Innenverteidiger Georgi Dschikija und Viktor Wassin (beide Kreuzbandriss) zu ersetzen, versuchte der Trainer, die 36jährigen Zwillinge Alexei und Wassili Beresuzki zu reaktivieren, die bis zur EM 2016 das Rückgrat der Verteidigung stellten. Beide sagten ab.

Im Bentley auf der Gegenspur

Immerhin kehrte ihr ZSKA-Kollege Sergei Ignaschewitsch zurück. Er ist 38. Auch sein Nebenmann Wladimir Granat (31) gilt nicht als Sprinter. Doch nicht nur Topverteidiger sind knapp geworden. „Die Generation um Andrei Arschawin, die bei der EM 2008 begeisternden Fußball spielte, hat noch in der Sowjetunion angefangen zu kicken“, erklärt Samwel Awakjan, Chefredakteur des Fachportals championat.ru.

Nicht nur die chaotische Nachwuchsarbeit in den neunziger Jahren ist Schuld an der Misere, sondern das gesamte russischen Profisystem. Viele Spitzenklubs lassen sich von Großkonzernen mit viel Geld aufrüsten, aber aufgrund der Ausländerquote in der russische Premier-Liga dürfen sie nicht mehr als fünf Legionäre aufstellen. Das bedeutet für Talente eine Stammplatzgarantie bei Bundesligareifen Gehältern. So soll Zenit-Stürmer Alexander Kokorin 3,3 Millionen Euro im Jahr verdienen. Auf dem Platz profitiert der Torjäger, der wegen einer Verletzung nicht im Kader ist, von der Klasse seiner argentinischen Mitspieler, im Alltag taucht er mit seinem Bentley auch mal auf der Gegenfahrbahn auf.

Spektakulärer Fußball sei von dieser Sbornaja nicht zu erwarten, sagt Awakjan. „Aber es bleibt die Hoffnung auf die Tribünen.“ Vielleicht beflügle die Unterstützung der vollen WM-Stadien in Moskau, Samara und Petersburg ja die Spieler. An ein Wunder will Awakjan aber nicht glauben. „Minimalziel ist das Überstehen der Gruppenfarbe. Das ist wohl auch das Maximalziel.“

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Erstellt:
14.06.2018, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 36sec
zuletzt aktualisiert: 14.06.2018, 06:00 Uhr

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