Nah dran

Gewinn mit Genuss

Genuss ist mehr als schwerer Rotwein und Zigarre. Für manche lokalen Akteure muss in einem Ei auch Resilienz stecken, damit der Genuss beim Essen vollkommen ist. Andere finden das Erlebnis in alten Streuobstsorten oder beim Sonntagsbraten in der Nudelbegleitung.

25.06.2021

Von TEXT: Mario Beißwenger|FOTOS: Mario Beißwenger, Horst Haas, Bernd Kammerer,Thomas Kiehl, Uii Rippmann, Speisekammer Werner

Die Xäls-Genossenschaft sorgt für stabilen Genuss durch lokale Produktion.

Die Xäls-Genossenschaft sorgt für stabilen Genuss durch lokale Produktion.

Resilienz in einem Ei zu vermuten, ist nicht ganz nahe liegend. Für Michael Schneider vom Vorstand der Xäls eG, der ökologischen Genossenschaft Neckar-Alb, gehört aber eine resiliente regionale Versorgung mit Lebensmittel zum Genusserlebnis. Marcus Hölz, Geschäftsführer einer Inklusionsfirma, definiert Genuss so, dass auch die soziale Inklusion beim Wirtschaften mit Lebensmitteln dazukommen muss. Andere entdecken Geschmackswelten in alten Apfelsorten oder sogar in einer Nudel. Wir befragten sechs Akteure zu den regionalen Grundlagen ihrer Genuss-Produkte.

Jörg Geiger hat es leicht, die Verbindung von seinen Produkten zum Genuss zu ziehen. Wer jemals einen seiner sauber ausgebauten Schaumweine aus der Champagner-Bratbirne geschlürft hat, braucht nicht mehr viele Worte verlieren, um Qualität von Mousseux, Farbe und Tiefe der Aromen zu würdigen.

Die Manufaktur Geiger in Schlat im Kreis Göppingen hat auch die feste Verbindung zur wirtschaftlich stabilen Wertschöpfung geschafft. Eine Million Flaschen produziert die Manufaktur, exportiert in die Vereinigten Arabischen Emirate – dorthin die alkoholfreien Varianten – die USA, das europäische Ausland.

Jörg Geiger ist Herr über den Schaumweingenuss aus Streuobstwiesen.

Jörg Geiger ist Herr über den Schaumweingenuss aus Streuobstwiesen.

Eine Grundlage für den Erfolg ist die Nase des Chefs, sagt Marketingfrau Anna-Lisa Thanner. Geiger experimentiert ständig mit Aromen, etwa mit Extrakten aus Wiesenkräutern, die er zum Grundgerüst aus Apfel- und Birnenwein fügt. Es darf aber auch mal geröstete und gemahlene Schalen Sylter Austern sein.

Neue Kombinationen zu kreieren, ist dabei kein Selbstzweck. Geigers Produktion fußt auf den jährlich wechselnden Ernten der Streuobstwiesen. Fällt eine Sorte in einem Jahr aus, muss sich der Chef was Neues einfallen lassen. Ziel sei immer, dass die Bewirtschafter der Streuobstwiesen in der Manufaktur einen stabilen Abnehmer haben. „Das ist unsere Herangehensweise“, sagt Thanner. „Unsere Kulturlandschaft so nutzen, dass sie auch so bleibt.“

Im Blick bleiben die Produktionsgrundlagen vom Boden, über die blühenden Wiesen, die Insektenwelt und die Sortenvielfalt. Das lassen sich die Schlater auch was kosten. Sie zahlen in der Regel den dreifachen des üblichen Marktpreises, in der Spitze bis zu 60 Euro auf 100 Kilo Obst.

Maria Schropp vom Verein Streuobstparadies zeigt, dass alte Sorten auch im Supermarkt locken.

Maria Schropp vom Verein Streuobstparadies zeigt, dass alte Sorten auch im Supermarkt locken.


Maria Schropp kann bei dem Preis mithalten. Allerdings will sie noch bessere Qualität als Geiger. Schropp ist Geschäftsführerin des Schwäbischen Streuobstparadieses mit Sitz in Urach. Vergangenes Jahr gelang es dem Verein, der den Streuobstanbau in sechs Kreisen entlang der Schwäbischen Alb unterstützt, Tafelobst aus Streuobstwiesen in Supermärkte zu bekommen.

Allein die Logistik aufzubauen, hat gedauert. Im Ergebnis konnte der Verein mehr als 15 Tonnen vermarkten. Noch eine Kleinstmenge, aber der Absatz der 22 alten Sorten war so gut, dass dieses Jahr mehr Läden mitmachen wollen und mehr Produzenten.

Der Genuss-Aspekt für die Endverbraucher kommt für sie ganz direkt aus dem Zugang zu den alten Sorten. Ein Apfel der Sorte Jakob Fischer wecke nostalgische Gefühle an die frühere Vielfalt und Geschmackserlebnisse der Kindheit. Die strenge Regionalität, die Besonderheit und die alten Namen verbinden sich für sie zu einem eigenem, einem „märchenhaften“, Geschmackserlebnis.

Dazu komme noch das Bewusstsein, etwas für den Erhalt der Kulturlandschaft zu tun. „Die hat ja das Potenzial, dass ich mich dort erholen kann.“ Schropp sieht die Zeit reif dafür, dass die Endverbraucher erkennen, dass sie mit ihrem Einkauf ganz direkt die Personen unterstützen, die für die Verbraucher die Landschaft pflegen. Das werde Teil des Genuss-Erlebnisses.


Michael Schneider geht noch weiter. Genuss könne ein übergeordnetes Thema sein, um auch Dinge zu fassen, die nichts mit Geschmack und Aroma zu tun haben. Im Frühstücksei aus lokaler Bio-Produktion stecke nicht nur die Pflege der Agrarlandschaft, für ihn schmeckt da auch Resilienz mit.

Die Pandemie mit ihren reißenden Lieferketten habe gezeigt, wie wichtig regionale Strukturen sind, um eine stabile Versorgung zu sichern. Da setzt die Xäls-Genossenschaft an. Weil große Lebensmittel-Händler in den Bio-Bereich einsteigen, ändere sich auch dort der Markt.

Schneider spricht von Bio-To-Go-Mentalität was Aldi und Lidl bieten. Sie bewirken, dass es auch bei Bio-Landwirten den Zwang zum Wachsen gebe. Ein Trend der dem gelernten und studierten Landwirt graust. Eine neue Studie belege, dass ökologische Landwirtschaft auf sehr großen Ackerschlägen sich gleich verheerend auswirkt auf die Insektenvielfalt wie kleinräumige konventionelle Wirtschaft.

Seine Konsequenz: Um kleinräumige Landwirtschaft zu erhalten, braucht es eine regionale Genossenschaft. Die könne vielfach helfen: Betriebsübergaben managen, wenn die Familie wegen der Arbeitsbelastung einen Hof nicht mehr weiterführen will; neue, stabile Vermarktungswege aufbauen, so dass Hähnchen fürs Schlachten nicht nach Augsburg gekarrt werden müssen; Sojabohnen nicht in Freiburg verarbeiten, sondern hier zu Tofu veredeln. „Wir können sonst bald fast nichts mehr aus der Region anbieten, um den Teller zu füllen.“


Marcus Hölz dreht das Genussthema noch weiter, bleibt aber am Thema Streuobst als Produktionsfaktor. „Streuobstprodukte funktionieren, wenn viele zusammen agieren.“ Sein Paradebeispiel ist der Steinlachtal-Schaumwein, der eben nur funktionierte, weil alle Obst- und Gartenbauvereine im Steinlachtal dafür zusammenarbeiten.

Das ist für ihn der Weg zum Genuss. „Produzenten müssen kooperieren“, sagt Hölz. Sie könnten oft alleine gar nicht die Grundlage schaffen für einen Markt. Angst vor Konkurrenz kann er nicht verstehen. Er hält sich an den Satz: „Mehr verkauft mehr.“

Der gelernte Sozialarbeiter denkt die Kooperation auch zur Inklusion weiter. Er ist Geschäftsführer von Arbeit in Selbsthilfe in Bodelshausen, deren Flagschiff im Kreis das Mössinger Pausa-Café ist. Dort und in den Regionalläden kann er die Chancen einer gemeinsamen Produktpräsentation zeigen. Reine Genußmittel sind im Café die Palette von Wiesentee bis Alkoholika – und die Küche, die auf möglichst viel regionale Zutaten oder die eigene Gemüseproduktion setzt. Dabei beschäftigt allein die Mössinger Pausa immer eine Handvoll Menschen mit Einschränkungen.


Oliver Freidler, in der Geschäftsleitung von Albgold in Trochtelfingen, hat sich zunächst mal informiert, ob Nudeln überhaupt zu den Genussmitteln zählen. Seine Einschätzung: „Nudeln haben eine Wechselfunktion. Sie sind Lebensmittel und Genussmittel.“ Eine besondere Form, der Teig auf das Mundgefühl abgestimmt, auf die optimale Bissfestigkeit gekocht, dann zum Sonntagsbraten gereicht, dann sei eine Nudel reiner Genuss.

Andererseits kann die gleiche Nudel auch Grundlage eines schnellen Essens sein. „Es geht ja auch nur mit Olivenöl und Salbei“, sagt er – und korrigiert sich gleich: „Dann ist das ja auch ein Mega-Essen.“

Damit die Nudel in guter Qualität auf den Teller kommt, braucht es Hartweizen. So viel Hartweizen, dass eine rein regionale Versorgung bei einem Betrieb mit 100 Nudelsorten und 35 Millionen Euro Jahresumsatz nicht möglich ist. Das hängt auch daran, dass die innere Qualität des Korns nach Wetter und Jahresverlauf schwankt und die regionale Verteilung die Abweichungen ausgleicht.

Albgold macht sich die Mühe, mit den Landwirten selbst Verträge abzuschließen und kauft nicht über einen großen Mühlenbetrieb ein. Freidler kann seine Lieferanten von der Alb, aus dem Rheintal, Rheinland-Pfalz oder Thüringen aufzählen. Das ist sein Netzwerk. „Diese Wirtschaftsbeziehungen sollen langlebig sein.“

Die Liebe zur Nudel (im Hintergrund) verbindet das Unternehmerpaar Werner.

Die Liebe zur Nudel (im Hintergrund) verbindet das Unternehmerpaar Werner.

Harald Werner ist gerade am Knüpfen dieser Wirtschaftsbeziehungen. Er setzt mit seiner Speisekammer Albstadt auch auf den Nudelgenuss, wenn auch in einer ganz anderen Dimensionen als Albgold. „Was die an einem Tag an Eiern brauchen, das brauche ich das ganze Jahr nicht.“

Er ist mit seiner Frau Anette Umsteiger aus der Gastronomie. Mit Beginn des ersten Lockdowns entschlossen sie sich, aus dem Gastgewerbe auszusteigen. Sie stiegen dafür in die Nudelproduktion ein und eröffneten in Albstadt-Ebingen mit der „Speisekammer“ einen Regionalladen, in dem es auch Maultaschen und Tellersulz gibt.

Die Werner-Nudeln haben alle Namen wie Alb-Welle oder Zöpfle, sie stecken in einer Verpackung aus kompostierbarem Zellglas und Graspapier. Aber das ist Werner nur wichtig, um im Ladenregal aufzufallen. „Es ist wichtiger, dass die Leute die Nudeln probieren.“

Er kann auch seine Zulieferer mit Namen nennen aus Grosselfingen oder Dürrwangen, aber letztlich sei doch die entscheidende Sache für den Nudelgenuss die Menge an Eiern. Bei ihm sind es fünf Eier aufs Kilo Gries. „Das ist eine ganz andere Qualität. Ei bindet den Gries anders als Wasser. Der Biss ist anders.“ Dazu kommt noch die langsame Trocknung. „Das macht den Genuss.“

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Erstellt:
25.06.2021, 07:23 Uhr
Lesedauer: ca. 5min 05sec
zuletzt aktualisiert: 25.06.2021, 07:23 Uhr

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