Leitartikel zu den Vorwürfen gegen Dieter Wedel

Gewalt mit System

Das Wort „erschütternd“ ist wohl noch zu tief gegriffen, wenn es um die Vorwürfe geht, die Schauspielerinnen gegen Dieter Wedel erheben: Über Jahrzehnte soll der Fernsehregisseur und ehemalige Theaterfestival-Leiter in Bad Hersfeld Frauen sexuell bedrängt haben, soll sie gewaltsam zum Sex gedrängt, soll sie vergewaltigt haben.

30.01.2018

Von Thomas Block

Berlin. Frauen, die sich ihm verweigerten, soll er am Set immer wieder gedemütigt, gewürgt, niedergerungen und schwer verletzt haben – physisch wie psychisch. Die Geschichte, die die Opfer unabhängig voneinander skizzieren, ist die eines Mannes, der über Jahrzehnte systematisch seine Macht missbrauchte, um Frauen gefügig zu machen.

Der 75-jährige Wedel selbst spricht von einer „diffamierenden Diskussion“. Die Vorwürfe lägen viele Jahrzehnte zurück und seien längst verjährt. Das mag juristisch zutreffend sein. Trotzdem haben die betroffenen Frauen selbstverständlich das Recht, ihre Leidensgeschichten zu erzählen. Und es ist wichtig, dass sie es tun.

Denn beim Fall Wedel geht es um weit mehr als um das katastrophale Fehlverhalten einer einzelnen Person. Er offenbart ein grundsätzliches Problem: Wir leben in einer Gesellschaft, die sexuelle Gewalt häufig als gegeben hinnimmt. Dem Saarländischen Rundfunk waren die Vorwürfe bekannt, den Ärzten war klar, wo die von Wedel hervorgerufenen Verletzungen herkamen, auch die Kameramänner, Regieassistenten und Schauspieler am Drehort wussten Bescheid. Sie alle schwiegen, sie alle machten sich mitschuldig. Keiner wagte es, sich mit dem großen Wedel anzulegen. Vor den Augen vieler missbrauchte da offenbar jemand über Jahrzehnte Frauen, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen.

Es ist absurd, dass es erst die #Metoo-Debatte brauchte, um diese Vorwürfe an die Öffentlichkeit zu spülen. Beschränkte sich die Diskussion in Deutschland bislang auf Fälle von Alltags-Sexismus, auf die Frage, wie Frauen im täglichen Miteinander behandelt werden, beschäftigt sie sich nun endlich mit der großen Frage: Was müssen wir grundlegend ändern, um sexuelle Gewalt in Deutschland so gut es geht zu verhindern?

Dass die Debatte ihren Anfang in der Filmwelt nimmt, ist nur logisch. Es gibt viele Schauspielerinnen für wenige Rollen, die Zusammenarbeit mit Dieter Wedel konnte aus einer von vielen eine Berühmtheit machen. In kaum einer Branche haben Männer so viel Macht über Frauen wie im Unterhaltungsbereich. Doch die Debatte darf dort nicht enden. Die fast ausschließlich männlichen Konzernchefs sind in einer ähnlichen Position, die überwiegend männlichen Spitzenpolitiker, die überwiegend männlichen Theater-Intendanten.

Solange Frauen systematisch benachteiligt werden, solange es eine gläserne Decke gibt, wird es auch Männer geben, die diesen Machtvorteil ausnutzen. Um diese Verhältnisse zu ändern, bräuchte es eine engagierte Frauenpolitik und viele Jahre Zeit. Bis es soweit ist, ist jeder einzelne gefragt. Mit etwas mehr Zivilcourage wäre der Fall Wedel bereits vor 20?Jahren diskutiert worden.