Die Türkei als Türsteher

Gespräch mit dem Politologen Ismail Küpeli über die aktuelle Lage und die Hintergründe

„Man muss differenzieren“: Diesen Satz sagt Ismail Küpeli beim Gespräch in der TAGBLATT-Redaktion über die Türkei immer wieder. Wir redeten mit dem 37-jährigen Wissenschaftler über die politische Lage am Bosporus und über die Rolle Deutschlands.

08.04.2016

Von Ute Kaiser

Ismail Küpeli ist Politikwissenschaftler an der Ruhr-Uni in Bochum. Er schreibt eine Doktorarbeit über die kurdischen Aufstände in der Türkei. „Die Türkei ist nicht mein alleiniges Thema“, sagte er beim Gespräch in der Redaktion. Der 37-Jährige hat vier Jahre lang in Portugal gelebt. Sein Buch über Krise und soziale Kämpfe dort trägt den Titel „Nelkenrevolution reloaded?“ Bild: Metz

Ismail Küpeli ist Politikwissenschaftler an der Ruhr-Uni in Bochum. Er schreibt eine Doktorarbeit über die kurdischen Aufstände in der Türkei. „Die Türkei ist nicht mein alleiniges Thema“, sagte er beim Gespräch in der Redaktion. Der 37-Jährige hat vier Jahre lang in Portugal gelebt. Sein Buch über Krise und soziale Kämpfe dort trägt den Titel „Nelkenrevolution reloaded?“ Bild: Metz

Tübingen. Die Türkei liefert derzeit viele Schlagzeilen. „Der fürchterliche Freund“ titelte beispielsweise das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ über Präsident Recep Tayip Erdogan und seinen „Feldzug gegen Freiheit und Demokratie“. Nicht zuletzt Erdogans harsche Reaktion auf ein Satire-Video der NDR-Sendung „extra 3“ – unter anderem ließ er den deutschen Botschafter einbestellen – werten Beobachter als autokratisch.

„Diese Reaktion ist innenpolitisch in der Türkei nicht unüblich“, sagt Ismail Küpeli, und sie sei vergleichsweise „milde“ ausgefallen. Allerdings will der Politikwissenschaftler von der Ruhr-Universität in Bochum auch bei den Satire-Beiträgen der letzten Wochen differenzieren. Das Schmähgedicht von Jan Böhmermann auf das türkische Staatsoberhaupt gehe im Gegensatz zu der „extra 3“-Satire nicht, sagt der 37-Jährige. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte es im Gespräch mit Ministerpräsident Ahmet Davutoglu als „bewusst verletzend“ kritisiert.

Erdogan spaltet und lässt seine Macht spüren

Die Attacken gegen die Presse- und Meinungsfreiheit sind alles andere als milde. Im vergangenen Monat begann in Istanbul der Prozess gegen zwei Journalisten der Zeitung „Cumhuriyet“ – unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Erdogan ist einer der Nebenkläger. Die Zeitung, nach Küpeli „die einzig übriggebliebene aus dem liberalen Spektrum“, steht unter massivem Druck.

Gewaltsam ging der Staat gegen die regierungskritische Tageszeitung „Zaman“ in Istanbul vor. Bewaffnete Spezialeinheiten der Polizei setzten mit Macht die Zwangsverwaltung durch und vertrieben Demonstranten mit Tränengas. „Zaman“ steht der Bewegung des Predigers Fethullah Gülen nahe, mit dem Erdogan mal befreundet war. Nun wirft er ihm vor, staatliche Strukturen zu unterwandern. Auch missliebige ausländische Journalisten werden an der Arbeit gehindert. Die Türkei verweigerte ihnen die Akkreditierung als Korrespondent. Sie verlassen das Land.

Erdogan provoziert, spaltet und lässt alle Welt seine Macht spüren. „Seit mehreren Monaten merkt die türkische Regierung, dass aus dem Ausland keine Reaktion kommt“, sagt Küpeli. Er hielt am Mittwochabend nach dem Redaktionsbesuch einen Vortrag im Tübinger Infoladen über die aktuelle Lage in der Türkei und ihre Hintergründe.

Ein Grund für die Zurückhaltung besonders Europas ist der sogenannte Flüchtlingsdeal mit der Türkei, über den lange verhandelt wurde. „Es ist grundsätzlich zu kritisieren, dass die Türkei den Türsteher für uns spielt“, so der Politologe. Er hält den Regierungen in Deutschland und anderen europäischen Ländern Versagen vor. Schon 2011, als der Krieg in Syrien begann, war klar, dass Menschen massenhaft fliehen werden. Die Nachbarländer, die Flüchtlinge aufnahmen, seien alleingelassen worden. Wegen Geldmangels mussten die Vereinten Nationen von 2014 an ihre Hilfe für Flüchtlinge immer wieder reduzieren. Die von den Mitgliedsstaaten versprochenen Mittel gingen nicht ein. Der Hunger trieb die Menschen auf die Flucht nach Europa.

Ein Punkt des Deals mit der Türkei sieht nun vor, dass die EU 3 Milliarden Euro zahlt, um die Lage von Flüchtlingen in der Türkei zu verbessern. Ist das Geld aufgebraucht, soll über weitere 3 Milliarden entschieden werden. Das ist die Theorie. In der Realität werden die Gelder nicht dafür verwendet, dass sich die Lebensverhältnisse der Menschen verbessern, indem es Arbeitsplätze und Bildung gibt, und so die Fluchtgründe wegfallen, glaubt Küpeli.

Er ist in Istanbul geboren und lebte zwölf Jahre lang mit seinen Eltern in der Metropole am Bosporus. 1991 floh die Familie, die Küpeli zum „linken Lager“ zählt, nach Deutschland. Schon sieben Jahre zuvor begannen türkische Streitkräfte und paramilitärische Einheiten, die kurdische Untergrundorganisation PKK zu bekämpfen. Vom Winter 2012 an schien eine Lösung möglich. Erdogans Regierung verhandelte mit der PKK über einen Frieden im Südosten der Türkei. Doch als bei der Wahl im Sommer vergangenen Jahres die gemäßigte Kurdenpartei HDP 13 Prozent der Stimmen gewann und die AKP die absolute Mehrheit verlor, stoppte Erdogan den Friedenprozess.

Seit fünf Monaten ähnelt die Situation in der Türkei der ab der 1980er Jahre. Kurdische Städte im Osten der Türkei sind belagert. In Städten wie Cizre, Silopi und Nusaybin gibt es immer wieder Militäroffensiven. Hunderte kurdische Zivilisten starben, unzählige Menschen wurden verletzt. Ganze Straßenzüge sind zerstört. „Mit jedem Toten ist es schwerer vorstellbar, dass es zu einer Rückkehr zum Frieden kommt.“

Der Staat bekämpft einen Teil der Bevölkerung

Küpeli spricht bewusst von Krieg, nicht von Bürgerkrieg, „weil sich nicht die Bevölkerung bekämpft, sondern der Staat einen Teil der Bevölkerung, der ihm politisch nicht opportun ist“. Es gehe nicht um „die Türken gegen die Kurden“. Allerdings sei etwa durch die Anschläge in Ankara der Krieg im Westen der Türkei angekommen. Der Politikwissenschaftler sieht „die Gefahr, dass der Krieg zum Bürgerkrieg wird“.

Ein Grund für die Befürchtung: Auf kurdischer Seite würden die Stimmen für einen militanten und militärischen Weg wieder lauter. „Die Idee von einer demokratischen Republik, in der beide Völker ihren Platz haben“, so Küpeli, scheint begraben. Doch genau dem galt die „große Hoffnung“ der Bevölkerung nach dem Sieg von Erdogans AKP bei den Parlamentswahlen 2002.

Die AKP habe die Jahre bis 2007 genutzt, „um die Bevölkerung hinter sich zu bringen und die Gegner auszuschalten“. 2007, nachdem sie die Wahlen mit absoluter Mehrheit gewonnen hatte, begann die „autoritäre Phase“, wie Küpeli es nennt. Erdogan, bis 2014 erst Minister-, dann Staatspräsident, ließ Bürgerproteste, die vom Istanbuler Taksim-Platz auf andere Städte übergingen, „repressiv ausschalten“. Küpelis Fazit: „Man hätte die AKP-Herrschaft schon viel früher stark kritisieren müssen.“

Nach Kritik sieht es nicht aus. Im Gegenteil. Die ersten deutsch-türkischen Regierungskonsultationen Anfang dieses Jahres in Berlin waren aus Sicht von Küpeli „eindeutig eine Stärkung der AKP“. Und Merkels Besuche in der Türkei interpretiere die AKP „als Freifahrtschein“, so der Politologe. Die Bevölkerung ziehe daraus den fatalen Schluss: „Wir brauchen einen starken Mann.“ Einen Militärputsch, auf den manche Liberale in der Türkei setzen, hält der Politikwissenschaftler für „weitgehend ausgeschlossen“. Küpeli teilt „weder die Angst davor noch die Hoffnung darauf , denn er sei nie ein Weg zu mehr Demokratie“. Aus seiner Sicht ist „nur der friedliche Weg langfristig erfolgreich“. Hoffnungsträger sind für ihn beispielsweise die Frauen- und die Umweltbewegung.

Ein Wissenschaftler auf der Suche nach der Wahrheit

Ausländische Journalisten verlassen das Land. Regierungskritische Medien werden ausgeschaltet. „Unabhängige Beobachter sind nicht mehr präsent“, sagt Ismail Küpeli. „Das ist auch ein Riesenproblem für mich als Wissenschaftler“. Eine „polarisierte Presse“ habe es in der Türkei schon immer gegeben. Doch die AKP habe das Problem verschärft. Der Politologe versucht, möglichst viele unterschiedliche Quellen zu nutzen und den Informationen zu vertrauen, die er für am ehesten nachvollziehbar hält. Berichte in türkischen Medien, oft Schnellschüsse, betrachtet er mit Skepsis. Viele Informationen bezieht er über Netzwerke wie Twitter.