Schwäbisches Tagblatt

Stadtgeschichte: Gerangel um die Tübinger Zeitung

Der ehemalige TAGBLATT-Redakteur Hans-Joachim Lang berichtete in der Reihe „Auf Zeitreise mit dem Stadtarchiv“ über Strippenziehereien um das „SCHWÄBISCHE TAGBLATT“ während der französischen Besatzungszeit.

14.03.2019

Von Ulla Steuernagel

1905 wurde das Verlagsgebäude in der Uhlandstraße 2 errichtet. Verleger Albert Weil wohnte mit seiner Familie im Haus. Archivbild: Tübinger Chronik

1905 wurde das Verlagsgebäude in der Uhlandstraße 2 errichtet. Verleger Albert Weil wohnte mit seiner Familie im Haus. Archivbild: Tübinger Chronik

Das Jahr 1945 stand in Deutschland für den Neubeginn, der nicht überall gelang und manchmal auch zu viele Geburtshelfer hatte. Prof. Hans-Joachim Lang sprach am Dienstagabend in der „Zeitreise“-Reihe des Tübinger Stadtarchivs vor etwa 100 Zuhörern im Ratssaal über die Anfänge der Tübinger Zeitung nach dem Zweiten Weltkrieg. Dass am Anfang ein „Fake“ stand, diesen provozierenden Untertitel klärte der Referent schnell auf: Ein „Fake“ war die Tageszeitung insofern, als sie nach ihrer ersten Ausgabe, am 21. September 1945, zunächst nur zwei Mal die Woche erschien. Der Grund für die wenigen Erscheinungstermine war die herrschende Papierknappheit.

100 Jahre zuvor war die „Tübinger Chronik“ gegründet worden. Um 1900 wandelten die Inhaber, die Gebrüder Weil, sie zu einem modernen Zeitungsbetrieb um und bauten 1905 das Druck- und Verlagsgebäude in der Uhlandstraße 2.

Für den jüdischen Verleger Albert Weil spitzte sich die Lage Ende der zwanziger Jahre zu, die Familie emigrierte in die Schweiz. Lang, der vor über zwanzig Jahren mit Wilhelm Kress gesprochen hatte, einem der damaligen Drucker, spielte eine Bandaufnahme des Interviews vor. Kress berichtet hier mit Hochachtung von seinem einstigen Chef, wie der sich „bei jedem Einzelnen“ verabschiedet hatte.

Die „Chronik“ wandelte sich mit Beginn der 30er Jahre vom liberalen zum deutschnationalen Blatt und wurde schließlich von der Stuttgarter NS-Presse mit dem Titel „Schwäbisches Tagblatt“ absorbiert. Das Gebäude stand währenddessen von inneren und äußeren Angriffen unbeschadet da.

Unter der französischen Besatzung wurde die parteikonforme NS-Presse dicht gemacht. Lang, der in seiner aktiven Zeit als TAGBLATT-Redakteur schon viel über die Geschichte des Hauses recherchiert und aus öffentlichen und privaten Archiven ausgegraben hat, hatte auch die letzte Chefsekretärin Martha Merkh ausfindig gemacht. Die parteilose Frau erinnerte sich im Gespräch mit ihm daran, wie sie zusammen mit dem Hauptbuchhalter als Letzte das Gebäude verließ, und die Beiden sich mit dem sarkastischen Gruß verabschiedeten: „Wir sehen uns in der russischen Taiga beim Holzhacken wieder.“ Als sie jedoch einige Zeit später in ihrer Reutlinger Wohnung von drei französischen Offizieren abgeholt wurde, ging es nicht zum Hacken in die Taiga, sondern nur zum Aufschließen ins Tübinger Verlagsgebäude.

Lang schilderte den Neubeginn der Zeitung als einen schwierigen Akt, an dem verschiedene „Strippenzieher“ beteiligt waren. Dabei war es noch nicht einmal nur die französische Militärregierung, die die Neuausgabe der Zeitung schwierig machte. „Die Besatzer“, so Lang, „hatten der Stadt Tübingen schon drei Tage vor der Kapitulation die Erlaubnis erteilt, die ‚Chronik‘ weiterzuführen.“ Aber zunächst nur als ein amtliches Mitteilungsblatt, das sich politischer Meinung enthalten musste. Ohne Lizenz war das Herausgeben einer Zeitung jedoch nicht möglich.

Damit kam ein Kreis ins Spiel, der sich regelmäßig in der Gaststätte „Pflug“ traf und aus Sozialdemokraten, unabhängigen Sozialisten, Kommunisten, Liberalen und christlich orientierte Demokraten bestand: Sie nannten sich „Demokratische Vereinigung“. Zu der ausschließlich männlichen Runde gehörten die Sozialdemokraten Carlo Schmid und Viktor Renner, aber auch Will Hanns Hebsacker, der als Kommunist im Konzentrationslager Heuberg gewesen und unter den Nazis mit Berufsverbot belegt worden war. Er sollte später einer der Herausgeber werden. Hebsacker ist der Vater der derzeitigen Verlegerin Elisabeth Frate.

In den ersten Monaten nach Beendigung der Nazi-Herrschaft entbrannte ein Machtkampf um die Zeitung und um die Posten, die es hier zu verteilen gab. Das Gebäude und die Druckerei, so hatte die französische Militärregierung verfügt, sollte der Stadt treuhänderisch überlassen werden. Auch innerhalb der „Demokratischen Vereinigung“ setzte ein Gerangel ein. Schmid und Renner wollten eine große Regionalzeitung für das französisch besetzte Württemberg aufziehen. Renner, der in dieser Zeit als unbelasteter Sozialdemokrat von den Franzosen zum Oberbürgermeister Tübingens ernannt worden war, hatte schon einige Personalien festgezurrt. So hatte er seinen Parteigenossen Otto Bartels zum Geschäftsführer ernannt und Paul Herzog, den späteren Mitbegründer der Tübinger CDU, zum Chefredakteur gemacht. Herzog hatte seinerseits ebenfalls schon Mitarbeiter eingestellt. Es sollten nur „beste schwäbische und deutsche Redakteure“ darunter sein. Und geplant war, was man Jahre später vielleicht „Medienhaus“ genannt hätte: Neben der Zeitung sollten Bücher und Zeitschriften gedruckt, zudem einen Filmverleih und ein „Versuchs- und Liebhabertheater“ geben. Renner fungiere als „Steigbügelhalter“ für Herzog, der nur Geld aus Tübingen ziehen wolle, so wurde Renner von Parteigenossen vorgeworfen.

Wie groß die Zeitung angelegt sein sollte, darüber war sich auch die Militärregierung uneinig. Die einen wollten ein Presseorgan für das französisch besetzte Württemberg, die anderen eine Kreiszeitung. Am 18. September 1945 traf Oberst Camille Loutre, Chef der Abteilung Presse, die Entscheidung. Er hatte genug von der Klüngelei im Rathaus und „den Versprechungen von unberufenen Lokalinstanzen“. Die Zeitungslizenz ging an die Journalisten Josef Forderer, Will Hanns Hebsacker und Hermann Werner, die Stadt sollte Besitzerin der Druckerei „Tübinger Chronik“ bleiben. Die Redaktion bekam auch einen Aufpasser, den Zensuroffizier, Pierre Angel, zur Seite gestellt. Der ging seiner Aufgabe mit Begeisterung nach. „Ich blieb viel länger, als ich bleiben sollte“, erklärte er Lang. In dieser Zeit des Aufbruchs spielte der Zufall immer wieder eine Rolle: Man traf sich zufällig auf der Straße und schon wurde jemand vom Fleck weg als Redakteur engagiert. So war es bei Werner Steinberg und später als Neckarbrücken-Begegnung bei Ernst Müller, dem Vater des späteren TAGBLATT-Verlegers und Chefredakteurs Christoph Müller. Für den Zensuroffizier Angel endete der Zeitungsjob, als herauskam, dass er auch unter dem Pseudonym Paul Arnold Artikel schrieb.

Angel ist auch zu verdanken, so verriet Lang, dass die Zeitung den Titel „Schwäbisches Tagblatt“ bekam. Ein „e“ hatte ihm ein sprachkundiger französischer Vorgesetzter allerdings herausredigiert. „Tageblatt“, monierte er, spreche man vielleicht in Berlin, aber nicht im Schwäbischen.

Als am 21. September 1945 endlich das SCHWÄBISCHE TAGBLATT erschien, hatte es drei Herausgeber: Josef Forderer, Will Hanns Hebsacker und Hermann Werner. Unter dem Herausgeber-Sextett, das die Franzosen am 1. Juli 1946 einsetzten, war nur Hebsacker verblieben. Die fünf anderen waren Ernst Müller, Erich Schairer, Rosemarie Schittenhelm, Alfred Schwenger und Werner Steinberg. Vier Jahre später waren es nur noch zwei: nämlich Müller und Hebsacker. Aber das, so der Chronist, sei eine andere Geschichte – fürs nächste Mal.

Ein Lob aufs Archiv

Im Werbeblock, so begann Hans-Joachim Lang seinen Vortrag, wolle er eine Lanze für das Tübinger Stadtarchiv brechen. „Ich habe in den vergangenen Jahren viele Archive in Deutschland kennengelernt“, so der Historiker. Auf diese Weise sei ihm klar geworden, „welches Glück die Stadt mit Udo Rauch und Antje Zacharias hat“. Dabei verrichteten der Archivleiter und seine Stellvertreterin seit Jahren ihre Arbeit in einem nicht zumutbaren Provisorium im Tübinger Rathaus. „Wer stolz ist auf das reiche Erbe der Stadt, sollte auch hier mal in die Puschen kommen“, so Lang. Er selber will seine gesammelten Unterlagen zur Zeitungsgeschichte dem Archiv geben, Aber erst, wenn es ein eigenes Gebäude hat.