Tübingen · Weihnachtsspendenaktion

Sammeln für die Tafel: „Gemeinsam schaffen wir den Winter“

Die Idee ist denkbar einfach: Diejenigen, die mehr haben, geben denen etwas ab, die nicht so viel haben. Nur: Diese Idee muss auch realisiert werden, dachten sich Hagar Steiff und Bettina Koschtjan – und legten einfach los.

06.12.2022

Von Lisa Maria Sporrer

Beim Obstgut Bläsiberg holen Hagar Steiff (links) und Bettina Koschtjan Äpfel ab. Bilder: Anne Faden

Beim Obstgut Bläsiberg holen Hagar Steiff (links) und Bettina Koschtjan Äpfel ab. Bilder: Anne Faden

Als der Volvo vor dem Tübinger Käsereiladen vorfährt, ist der Kofferraum schon bis obenhin vollgestellt mit Kisten. Es ist Dienstag, kurz vor Mittag. Letzte Station. Jetzt nur noch zum Tafelladen, abladen. „Wir kennen einige Leute, die auf die Tafel angewiesen sind“, werden Hagar Steiff und Bettina Koschtjan dann später auf der Rückfahrt nach Kilchberg sagen. Und davon schwärmen, dass die Hilfsbereitschaft in kleinen Orten in Situationen wie diesen immer besonders groß sei.

Situationen wie diese: Erst Pandemie, dann Krieg, jetzt Energiekrise, Inflation, bald wohl Wohlstandsverlust. „Da mussten wir einfach etwas unternehmen“, sagt Hagar Steiff und spricht damit zunächst einmal von sich. Steiff ist Tierärztin, eine Frau, die zupacken kann, die bestimmt und doch freundlich ist. Die Berichterstattung über den anstehenden Krisenwinter brachte sie schließlich zum Nachdenken: Da gibt’s die Wohlhabenden, dachte sie. Die schaffen den Winter problemlos. Der Mittelschicht tut ein Finanzzuschuss sicherlich gut. „Aber“, sagt Steiff, „da gibt’s eben auch noch jene, denen es vorne und hinten nicht reicht.“ Und die brauchen Unterstützung. Denen wollte sie gerne ihre staatliche Energiepreispauschale geben, aber wie? Und sicherlich geht es nicht nur ihr so, dachte sie.

Mit dieser Idee ließ sie sich einen Termin bei der Kilchberger Ortsvorsteherin geben. Bettina Koschtjan kennt sie seit der Schulzeit. Und Koschtjan war gleich begeistert von der Aktion, die beide auf den Namen tauften: „Soziale Gerechtigkeit durch Bürgerinnen und Bürger“. Gerechtigkeit heißt in diesem Fall Umverteilung: Diejenigen, die mehr haben, geben denen etwas ab, die nicht so viel haben. Und damit das auch sofort bei denen ankommt, die es dringend benötigen, riefen sie beim Tafelladen in Tübingen an. Auch dort war man ganz angetan von der Idee.

Sammeln für die Tafel: „Gemeinsam schaffen wir den Winter“
„Wir brauchten eine bestehende Struktur“, sagt Koschtjan. „Hätten wir erst einen Verein gründen müssen oder so, hätten wir vermutlich erst im nächsten Winter anfangen können.“ Und Steiff: „Wir wollten jetzt helfen. Ganz praktikabel. Punkt.“ Jeden Dienstag starten sie seit ein paar Wochen am Kilchberger Hofladen ihre Tour. Bei der Tafel erfragen die beiden wöchentlich den Bedarf. Besonders Milchprodukte sind gefragt, Eier, Mehl, Linsen.

360 Eier laden sie am Kilchberger Hofladen vom Hofgut Martinsberg in ihren Kofferraum, zwei große Kartons. Auf der Fahrt zum Obstgut Bläsiberg spricht Steiff dann über „Bruderhahnhaltung“, also jene Haltung, bei denen die männlichen Küken nicht geschreddert werden. Das ist ihr wichtig. „Wir wollen regional einkaufen“, sagt sie. Auch, um damit die regionalen Erzeuger unterstützen zu können, die ebenfalls unter Pandemie, Energiekrise und Inflation zu leiden haben.

In dem großen Lagerraum beim Obstgut Bläsiberg riecht es nach Äpfeln. Steiff und Koschtjan holen dort zwei Kisten ab, „2.- Wahl-Äpfel“. Mehrmals, erzählt Steiff, als sie regionale Anbieter anrief und von ihrer Idee erzählte, hätte sie zu hören bekommen: Ja, man würde gerne spenden und unterstützen. Aber in diesen Zeiten sei es sehr schwierig als Erzeuger noch wohltätig zu sein. „Aber das wollten wir auch nicht. Wir wollten ja keine geschenkte Ware“, sagt Koschtjan. Den vollen Preis müssen sie trotzdem nicht zahlen, Einkäufe für die Tafel gibt es zum Einzelhandelspreis. Rund 2000 Euro geben sie in der Woche für die Einkäufe aus.

Am Kilchberger Hofladen startet jeden Dienstag die Tour.

Am Kilchberger Hofladen startet jeden Dienstag die Tour.

Angefangen haben Steiff und Koschtjan die Aktion mit privaten Spenden. Es sprach sich schnell im Dorf herum, was sie vorhaben, dann druckten sie einen Flyer, und die Hilfsbereitschaft wurde noch größer. So groß, dass sie das als Privatpersonen kaum mehr stemmen konnten. „Zum Glück war auch der Verein Pro Kilchberg gleich begeistert von der Aktion“, sagt Koschtjan. So können die zahlreichen Spender nämlich auch Spendenbescheinigungen ausgestellt bekommen. „Alle im Ort sind wahnsinnig engagiert“, sagt Steiff. Rund 20 Leute hätten sich schon gemeldet, helfen zu wollen. Egal, in welcher Form.

Die Idee sei ja eigentlich nicht so außergewöhnlich. Also die Idee der Umverteilung. „Aber wenn viele Einzelne etwas machen, kann da eine große Sache draus werden. Gemeinsam schaffen wir den Winter“, sagt Hagar Steiff, auf dem Weg vom Obstgut Bläsiberg zum Mühlenlädle in Unterjesingen, um dort Mehl aus der Unterjesinger Mühle und Linsen aus eigenem Anbau abzuholen. Die letzte Station, bevor es zum Tafelladen geht, ist der Käsereiladen. Die Tafel hat einen Bedarf von rund 400 Litern Frischmilch in der Woche angemeldet. Ganz so viel kann die Hofmolkerei Schmid aus Münsingen momentan noch nicht liefern. „Das sind Dimensionen, damit hätten weder wir, noch die Molkerei gerechnet“, sagt Steiff. Mit weiteren regionalen Anbietern sind Steiff und Koschtjan noch in Gesprächen. Mit einem Imker beispielsweise.

Rund drei Stunden dauert die Tour der beiden Kilchbergerinnen. Aber nicht immer dauert es so lange: Obstgut Bläsiberg liefert oft selber, auch Milch, Joghurt und Käse aus dem Käsereiladen wird separat geliefert, da die Kühlketten nicht unterbrochen werden dürfen. Ganz schnell geht es dementsprechend auch im Tafelladen. Zahlreiche Mitarbeiter räumen dort an diesem Dienstagmittag Waren in die Regale. Willi Egerle hilft den beiden Frauen beim Ausladen.

Auf der Rückfahrt, als der Kofferraum wieder leer ist und die Sitzbänke wieder aufgestellt sind, wirken Hagar Steiff und Bettina Koschtjan zufrieden. Strukturiert, effektiv und ohne viel Bürokratie wollen sie diese Aktion durchziehen, sagen sie. So lange wie möglich, sprich: so lange das Geld reicht. „Und vielleicht können wir damit auch ein paar Leute anstoßen, sich in Krisenzeiten über ihr eigenes Verhalten Gedanken zu machen“, sagt Steiff.

Zwei Projekte setzten auf die Leserinnen und Leser

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Erstellt:
06.12.2022, 17:48 Uhr
Lesedauer: ca. 4min 07sec
zuletzt aktualisiert: 06.12.2022, 17:48 Uhr

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