Woran sie glauben (10): Die TOS-Gemeinde

„Geistliche Kampfführung“ gegen die Aufklärung

Die TOS ist evangelikal-charismatisch, viele Mitglieder sind Kreationisten. Zur Glaubenspraxis gehört das Bemühen, Krankheiten durch intensives Beten zu heilen. Die Gründer der Gemeinde gelten manchen offenbar als Propheten.

18.06.2019

Von Philipp Koebnik

Die TOS bezeichnet sich als Freikirche mit „evangelikal-charismatischer Prägung“. Religiöse Popmusik ist Teil ihrer Gottesdienste. Bild: Philipp Koebnik

Die TOS bezeichnet sich als Freikirche mit „evangelikal-charismatischer Prägung“. Religiöse Popmusik ist Teil ihrer Gottesdienste. Bild: Philipp Koebnik

Dass die Mitglieder der TOS-Gemeinde sich dem Judentum und dem Staat Israel besonders verbunden fühlen, merken Besucher eines Gottesdienstes schnell. So tragen einige Gäste eine Kippa. Wenige Meter von der Bühne entfernt steht ein großer siebenarmiger Leuchter, daneben die Flaggen der USA, Israels und der Bundesrepublik.

Sie wollen die jüdischen Wurzeln des Christentums in Erinnerung rufen, zumal christlicher Antijudaismus und Antisemitismus „über Jahrhunderte die Norm“ gewesen sei, wie Heinz Reuss vom Pastoralteam der Tübinger TOS beklagt. Israel sei der „stärkste Ausdruck jüdischen Lebens in heutiger Zeit“, findet er. Viele Mitglieder der TOS pflegten Freundschaften mit Israelis. „Das ist uns entscheidend wichtig“, betont der 42-Jährige.

Die TOS bezeichnet sich als Freikirche sowie Missions- und Sozialwerk mit „evangelikal-charismatischer Prägung“. Weltweit gebe es zwölf Gemeinden, unter anderem in Leipzig, Lima und La Paz, mit insgesamt 800 bis 1000 Gläubigen. Hier gibt es laut Reuss rund 350 Gemeindemitglieder, die vor allem in den Kreisen Tübingen und Reutlingen wohnen. Mit Gästen nähmen an den Gottesdiensten im Gemeindezentrum in der Tübinger Eisenbahnstraße 126 oft bis zu 600 Gläubige teil.

Als das TAGBLATT vor Ort ist, sind mehrere hundert Gläubige da, darunter viele junge Leute. Einige Besucher tanzen zu Klezmer und christlicher Popmusik. Andere klatschen oder bewegen sich im Takt. Was auf der Bühne geschieht, wird auf zwei Leinwände projiziert und außerdem im Internet übertragen – samt mehrsprachiger Übersetzung.

Geistliche Kriegsführung

Während die Mitglieder des Pastoralteams predigen, strecken viele immer wieder ihre Hand gen Himmel und rufen „Amen“. Gründungsmitglied Jobst Bittner (siehe Infobox) spricht über die „Finsternis im Land“, die in der verlorenen Verbindung der Menschen zu Gott begründet liege. Er glaubt: „Jeder Mensch ist unter dem Joch der Sünde.“ Gute Taten minderten die Last der Sünde nicht. Ihr Ursprung: der Versuch des Menschen, nach seiner Façon glücklich zu werden. In der Folge habe er das Paradies verloren. Jesus habe die Mauer der Sünde jedoch eingerissen mit dem „Stempel seines Blutes“. Der Mensch könne nicht viel tun, außer Gott zu suchen, sich ihm zu beugen, seine Sünden zu bekennen – und für Israel zu beten. Alle stehen nun auf zum gemeinsamen Gebet. Bittner spricht: „Danke Jesus, dass du ans Kreuz gegangen bist.“

TOS-Mitglieder tanzen zu jüdischer Klezmer-Musik. Bild: Philipp Koebnik

TOS-Mitglieder tanzen zu jüdischer Klezmer-Musik. Bild: Philipp Koebnik

Bittner spielt eine wichtige Rolle in der Gemeinde. Sein Buch „Die Decke des Schweigens“ ist laut „TOS-Medien“-Webseite ein „Bestseller auf dem christlichen Markt“. Bittner beschreibt darin, wie er mit Glaubensbrüdern in Israel weilte. Damals habe Gott zu ihm gesagt: „Ich habe euch gerufen, vertrocknete Quellen zu öffnen und neue Brunnen in der Wüste zu graben!“

Die „Städte und Nationen“ seien von Finsternis bedeckt, so die zentrale These des Buchs. Es herrschten „Satan und das gestaffelte Heer seiner dämonischen Mitarbeiter“. Die Finsternis könne „proportional zu der Schuld und dem Vergehen des Landes“ sein. „Geistliche Kampfführung“ sei nötig, um Städte und Nationen zu heilen. Die Gemeinde Jesu sei dabei „militärischer Repräsentant des Himmels“. Den „Verführungen des säkularen Humanismus“ gelte es zu widerstehen. „Heute ist liberales, aufgeklärtes Denken in der westlichen Welt normal und hat die Fähigkeit, Gottes Wort zu glauben, beinahe verdrängt.“

Auf der „King of Glory“-Konferenz der TOS im November trat der US-Prediger und Autor Chuck Pierce auf. Zu sehen ist das auf einem Video, das dem TAGBLATT vorliegt. Pierce gilt seinen Anhängern als Apostel und Prophet. Er gründete die Organisation Glory of Zion International Ministries (GZI), die weltweit „apostolische Zentren“ fördert. Im Online-Shop der GZI können Gläubige neben Büchern auch Duftkerzen, Schmuck, Kleidung und Accessoires kaufen.

Die TOS-Gemeinde fühlt sich Israel und den USA besonders verbunden. Bild: Philipp Koebnik

Die TOS-Gemeinde fühlt sich Israel und den USA besonders verbunden. Bild: Philipp Koebnik

Pierce gehört zur New Apostolic Reformation (NAR). Dabei handelt es sich um eine fundamentalistische Bewegung, die für eine neue Reformation eintritt sowie die Ämter der Apostel und Propheten wiederbeleben will. Auf der Konferenz macht Pierce nicht nur Werbung für sein neues Buch. Unter Jubel lobt er US-Präsident Donald Trump dafür, Jerusalem als Hauptstadt Israels anerkannt zu haben – für ihn ein Zeichen, dass eine neue Zeit angebrochen sei. Pierce spricht in seiner eindringlichen Predigt nicht nur von einer notwendigen Reformation, sondern auch von „spiritual warfare“, also „geistlicher Kriegsführung“.

Pierce würdigt die Arbeit des Ehepaars Bittner für die „Berufung“ Deutschlands, eines „auserwählten“ Landes mit künftiger „Leitungsfunktion“. Die zwei seien „apostolische Diener“ und würden dereinst „Armeen anführen“. Er wirft den Bittners einen Mantel um und legt die Hand auf ihre Köpfe. Pierce: „Ihr repräsentiert diese neue Bewegung Gottes in Deutschland.“ Man danke Gott für die prophetische und apostolische Salbung. Diese bei der NAR übliche Geste ist an die Stelle im Alten Testament angelehnt, wo der Prophet Elia seinen Mantel über Elisa wirft und ihn zu seinem Nachfolger bestimmt (1. Könige 19,19). Der Vorgang sei indes nichts besonderes, sagt Pressesprecherin Carmen Shamsianpur. Sie betont: Die NAR spiele in der TOS „gar keine Rolle“.

Die Gottesdienste der TOS dauern gut und gerne zwei Stunden. Viele kommen schon früher ins Café und bleiben auch länger. Sonntags gibt es parallel einen Kindergottesdienst. Im Jahr 2000 startete die Gemeinde eine „Tag-und-Nacht-Gebetswache“, die angeblich bis heute nicht unterbrochen wurde. In dem Raum beten stets mindestens zwei Leute in Schichten, sieben Tage die Woche, jeweils 24 Stunden, „für Israel, Tübingen, Deutschland und die Nationen“. Ihren Glauben bezeugen die Gemeindemitglieder nicht nur beim Gottesdienst. Sie treffen sich wöchentlich in „Zellgruppen“ in Privatwohnungen, wo sie die Bibel lesen und sich austauschen.

Carmen Shamsianpur, Heinz Reuss. Bilder: Koebnik

Carmen Shamsianpur, Heinz Reuss. Bilder: Koebnik

Der Mission kommt eine hohe Bedeutung zu, national wie international. So betrachte man es als wichtige Aufgabe, den Glauben in die „entchristlichten“ neuen Bundesländer zu tragen, sagt Reuss. Neben ihm gehören dem Pastoralteam vier weitere Männer und vier Frauen an.

Die Theologie der TOS ist pfingstlich-charismatisch und evangelikal geprägt. Die Bibel gilt als höchste Autorität. Das Werk des Heiligen Geistes spielt eine zentrale Rolle, ebenso die individuelle Beziehung zu Jesus. „Die persönliche Glaubensentscheidung ist uns sehr wichtig“, sagt Reuss. Üblich ist deshalb die Erwachsenentaufe.

Zwar wird der Bezug zum Judentum stark betont, doch befolgen die Gläubigen nicht die jüdischen Speisegebote – anders als die protestantische Freikirche der Siebenten-Tags-Adventisten, deren Anhänger manche der Speisegebote befolgen.

Der Teufel existiere als leibhaftige Person, sagt Reuss. Das könne man dem biblischen Zeugnis entnehmen, etwa der im Lukas-Evangelium beschriebenen Versuchung Jesu. Jedoch sollten sich die Gläubigen auf Gott und Jesus fokussieren, da „Er“ den Teufel überwunden habe. Jede und jeder werde sich nach Christi Wiederkunft, beim Jüngsten Gericht, verantworten müssen. Dann heiße es: ewiges Heil oder ewige Verdammnis. Daher sei es „wichtig, so zu leben, dass Jesus jederzeit wiederkommen kann“. Das schließt etwa homosexuelle Handlungen strikt aus: „Gelebte Homosexualität steht nicht im Einklang mit dem biblischen Weltbild“, sagt Reuss. Allerdings liebe Gott jeden Menschen, auch den „Sünder“.

Das Abendmahl feiern die TOS-Mitglieder unregelmäßig, entweder im Gottesdienst oder in den Hauskreisen. Dem Grundsatz der „Priesterschaft aller Gläubigen“ folgend, könne jede und jeder die Zeremonie vollziehen, sagt Reuss. Was genau beim Abendmahl geschehe? Nun, Wein und Brot verwandelten sich wohl nicht tatsächlich in das Blut und den Leib Christi. Doch sei Jesus während des Rituals anwesend. Dass nicht nur Katholiken, sondern auch Lutheraner an die Realpräsenz Christi in Wein und Brot glauben (während letztere lediglich die katholische Transsubstantiationslehre ablehnen), war Reuss zuvor nicht bekannt. Aber: Er sei ja auch kein Theologe, wie der Vollzeit-Mitarbeiter lächelnd sagt. Reuss hat Betriebswirtschaft studiert.

In der Glaubenspraxis der TOS kommt der Krankheitsheilung eine besondere Bedeutung zu. „Jesus heilt heute noch!“, heißt es vielversprechend auf der Webseite. Einmal im Monat gibt es den „Healing Room“, in dem Mitarbeiter zum Gebet für die Heilung von Krankheiten bereitstehen. Unregelmäßig gibt es das ganztägige „Healing House“ mit Vorträgen und mehr – die Teilnahme kostet 100 bis 150 Euro.

Vererbte Schuld, göttliche Heilung

Gemeindemitglied Nicole Demmer berichtet, ihre Allergien seien nach vielen Gebeten verschwunden. Wenn man krank sei, solle man beten und auf ein göttliches Wunder hoffen, parallel aber auch zum Arzt gehen, rät die 55-jährige Buchhalterin aus Tübingen. Sie glaubt, dass vererbte moralische Schuld für Krankheiten verantwortlich ist. Immerhin, so gibt sie zu bedenken, steht im 2. Buch Mose geschrieben, dass Gott „die Schuld der Väter an den Söhnen bis in die dritte und vierte Generation“ verfolge.

Nicole Demmer war Atheistin, bevor sie bei der TOS landete. Sie wurde evangelisch getauft, trat jedoch mit 14 Jahren aus der Kirche aus, erzählt sie. Mit 39 hatte sie fast ein Burn-out. Dann besuchte sie mit ihrem Mann, der sie dazu eingeladen hatte, einen Gottesdienst der TOS. Dort habe sie gesagt: „Gott, wenn es dich wirklich gibt, will ich dich jetzt kennenlernen.“

Das sei der Beginn einer persönlichen Beziehung gewesen: „Ich habe Jesus in mein Leben eingeladen.“ Sie überstand das Burn-out, verlor ihre Ängste, und fand Frieden, wie sie sagt. Zuvor war sie auf der Suche, interessierte sich für Esoterik. Doch Hilfe und Kraft habe sie nur bei der TOS gefunden, sagt die 55-Jährige.

Chuck Pierce segnet das Ehepaar Bittner. Screenshot: Philipp Koebnik

Chuck Pierce segnet das Ehepaar Bittner. Screenshot: Philipp Koebnik

Ihr Ehemann Markus Demmer ist seit 20 Jahren Teil der Gemeinde. Er sei viele Jahre von Alkohol und Drogen abhängig gewesen. „Ich war austherapiert“, sagt der 56-Jährige über seinen damaligen Zustand. Er galt also als therapieresistent, als hoffnungsloser Fall. Über Bekannte sei er zur TOS gekommen. „Ich habe eh nichts mehr zu verlieren“, habe er seinerzeit gedacht. Der Glaube habe ihm die nötige Kraft gegeben, um sich von der Sucht zu befreien.

Wie Nicole Demmer, so war auch Pressesprecherin Carmen Shamsianpur früher Atheistin, erzählt sie. Aber obwohl alles rund lief, habe sie das Gefühl gehabt, ihr Leben sei „leer“. Zur TOS habe sie durch Gott gefunden. Die „Gemeinschaft mit anderen Christen“ zu pflegen, sei ihr wichtig, sagt die 35-Jährige, die eine Armbanduhr mit Davidstern und jüdischem Ziffernblatt trägt.

Dass Gott Krankheiten heilt, davon ist auch Shamsianpur überzeugt. Und: Die meisten Gemeindemitglieder seien Kreationisten, wie sie selbst. Dem Kreationismus zufolge wurde die Erde vor rund 6000 Jahren von Gott erschaffen. Das lasse sich mit wissenschaftlichen Erkenntnissen vereinbaren. So könnten mit jenen in der Bibel beschriebenen Tieren, die vor der Sintflut gelebt haben sollen, die Dinosaurier gemeint sein, glaubt Shamsianpur, die unter anderem für die Landeszentrale für politische Bildung arbeitet. Zwar seien wohl nicht alle Gemeindemitglieder Kreationisten. Jedoch: Sich dem Glauben hinzugeben bedeutet für Shamsianpur, die Dinge nicht zu relativieren: „Wenn, dann schlucke ich die Pille ganz.“

Mehr als Stadtmission

Die TOS-Gemeinde wurde 1987 von Jobst und Charlotte Bittner sowie weiteren Ehepaaren aus der Tübinger Baptistengemeinde gegründet. Zunächst gab es überkonfessionelle Gottesdienste, bevor man 1990 eine Freikirche gründete. Infolge der Missionsarbeit gilt „TOS“ heute als Eigenname und steht nicht mehr für „Tübinger Offensive Stadtmission“. Die TOS umfasst nach eigenen Angaben zwölf Gemeinden, fünf Gebetsdienste, ein Rehabilitationszentrum für Drogenabhängige und vier Häuser für Straßenkinder. Die TOS ist ein eingetragener Verein. Mitgliedsbeiträge gibt es nicht. Die Gläubigen sind angehalten, ein Zehntel ihres Bruttoeinkommens an die Gemeinde abzugeben.