Sicherheit

Gegen die Angst

Im beschaulichen Tübingen hat eine Reihe sexueller Übergriffe die Menschen verunsichert. Ein Netzwerk aus vielen Akteuren will in der Stadt nun gegensteuern – und für Frauen „die Nacht zurückerobern“.

28.11.2017

Von MADELEINE WEGNER

Gegit Foto: dpa Foto: dpa

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Tübingen. Ende September: Vergewaltigung im Alten Botanischen Garten, mitten in der Stadt. Anfang Oktober: Die Polizei meldet nach einem Wochenende gleich drei sexuelle Übergriffe auf Frauen, ebenfalls in der Innenstadt. Auch just am vergangenen Wochenende wurde eine junge Frau von einem Mann in Tübingen sexuell belästigt.

Hat sich etwas verändert in dieser Stadt, die als schmuck und beschaulich gilt? Ist die Uni-Stadt unsicherer geworden? Gibt es hier mehr Straftaten als in anderen Städten? Ja, es sei zu etlichen sexuellen Übergriffen und Belästigungen gekommen, sagt Luzia Köberlein. Es habe deshalb sogar eine Anfrage im Gemeinderat zur Sicherheit im öffentlichen Raum gegeben, so die Integrations- und Gleichstellungsbeauftragte der Stadt. Sie sagt aber auch: „Wir tun etwas dagegen.“

DNA-Proben gefordert

Auch OB Boris Palmer (Grüne) will in Tübingen eine deutliche Zunahme sexualisierter Gewalt im öffentlichen Raum beobachtet haben. Wie es seine Art ist, fachte er die Debatte in der Stadt erst recht an, wo andere Rathauschefs womöglich eher abwiegeln. Bereits zu Beginn des Jahres stellte er auf seinem Facebook-Kanal fest: „Tübingen war eine der Städte, in denen Frauen sich ohne Angst frei bewegen konnten. Das hat sich leider verändert. Gut, dass die Polizei nun einen mutmaßlichen Täter ermittelt hat. Danke dafür! Ist es wichtig, dass der Mann ein Asylbewerber und ein junger Mann war? Ja. Die Anzahl vergleichbarer Fälle ist einfach zu hoch, um das als völlig normal abzutun.“ Er äußerte damals auch Vorschläge: „Nach meiner Meinung hätte schon der erste Bericht einer Zeugin, dass ein junger Schwarzafrikaner versucht hat, sie in einem Busch in der Innenstadt zu vergewaltigen, gereicht, um DNA-Proben aller schwarzen Asylbewerber in der Stadt zu nehmen.“

Köberlein spricht sich allgemein gegen diese Haltung aus. Mit Blick auf die (auch gesetzlichen) Entwicklungen seit der Kölner Silvesternacht sagt sie: „Sexualisierte Gewalt wurde vor allem als eingewandertes Problem diskutiert – es ist jedoch ein gesamtgesellschaftliches Problem. Und ein Thema von Macht.“ Gewalt gegen Frauen nehme die Stadtverwaltung sehr ernst, sagt Köberlein. „Und ich bin froh, dass es so ein gutes Netzwerk in Tübingen gibt.“

Denn gegen sexualisierte Gewalt formiert sich in Tübingen auch Protest, es scheint immer mehr Aktionen und Kampagnen zu geben. Seit 2015 rufen in der Walpurgisnacht beispielsweise wieder Tübinger Frauennetzwerke zur Demo auf, sie wollen sich „die Nacht zurückerobern“, nachdem in jenem Frühjahr mehrere Männer eine junge Frau am Rande einer Party vergewaltigt hatten. 2018 soll eine große Kampagne für ein sichereres Nachtleben starten. Laut Stadtverwaltung ist diese „bundesweit einzigartig“, weil mit 30 Clubs und Kneipen fast alle Lokale des Nachtlebens mitmachten. Zum Vergleich: In Freiburg war es gerade mal ein Club, der sich dazu bereit erklärte. Expertinnen von Beratungsstellen und Polizei schulen derzeit die mehr als 300 Mitarbeiter der Tübinger Lokale, damit diese im Fall von Übergriffen passend reagieren können. Außerdem will die Stadtverwaltung zusätzliches Fördergeld für Präventionsprojekte bereitstellen: Auch sollen von 2018 an städtischer Ordnungsdienst und Polizei mehr Präsenz in der nächtlichen Stadt zeigen.

Einen besonderen Anstoß scheinen dabei die Ereignisse vom Mai 2017 gegeben zu haben. Im städtischen Jugendhaus kam es bei Partys an zwei Abenden zu mehreren Übergriffen, bei denen Männer teilweise in der Gruppe agiert haben sollen. Auch hier bekam die Debatte eine Rassismus-Schlagseite: durch Palmers Posts und durch eine Mitteilung der Stadtverwaltung, nach denen „mehrere Schwarze“ unter den Tätern gewesen seien. Das Jugendhausteam und die Fachschaft des Instituts für Erziehungswissenschaft, die eine Party ausgerichtet hatte, gerieten in die Kritik, weil sie nicht alle Informationen zu den Vorfällen zeitnah öffentlich gemacht hatten. Die Lehrenden des Instituts zeigten sich bestürzt, „dass sexualisierte Gewalt, zumeist von Männern gegenüber Frauen, offenbar zu einem Bestandteil des Tübinger Nachtlebens zu werden droht“.

Die Lage in Tübingen sei nicht anders als in anderen Städten, sagt hingegen Martina Kaplan, die beim Polizeipräsidium Reutlingen das Referat Prävention leitet: „Es gibt keine Dramatik in diesem Bereich.“ Sie gibt generell zu bedenken, dass in die Kriminalstatistik nur Fälle fließen, die zur Anzeige gebracht wurden: „Sie spiegelt nicht wider, was alles passiert.“ Taten einzelner fremder Täter oder gar einer Gruppe seien „absolute Ausnahmefälle“, sagt die Polizeibeamtin. Durch die verschiedenen Vorfälle ist in letzter Zeit bei vielen Menschen der Eindruck entstanden, dass sexualisierte Gewalt vor allem im öffentlichen Raum auftrete. „Dem ist nicht so“, sagt Micha Schöller von der Tübinger Anlaufstelle für sexualisierte Gewalt. Sie berät betroffene Frauen. Ob in Tübingen oder in anderen Städten: Deutlich häufiger als von Fremden gehe sexualisierte Gewalt von Bekannten aus.