Glücksspiel

Game over: Land will Automatenspiel regulieren

Spielhallen müssen künftig einen halben Kilometer auseinanderliegen. Während andere Bundesländer Ausnahmen zulassen, bleibt Baden-Württemberg hart. Die Branche läuft Sturm.

19.06.2021

Von THOMAS VEITINGER

Städte wollen die Zahl der Spielhallen begrenzen, wünschen sich aber Ausnahmen. Foto: Rolf Vennenbernd/dpa

Städte wollen die Zahl der Spielhallen begrenzen, wünschen sich aber Ausnahmen. Foto: Rolf Vennenbernd/dpa

Ulm. Bei Volker Brümmer fing alles harmlos an. Als Kind faszinieren ihn an einer Autobahnraststätte blinkende Lichter eines Spielautomaten. Als Jugendlicher steckt er nach einem Pommeskauf Wechselgeld in einen Automaten. Als junger Erwachsener besucht er einmal eine Spielhalle. Schließlich regelmäßig einmal die Woche. Dann zweimal. Irgendwann jeden Tag.

„Ich hatte Angst, den Alltag nicht zu meistern. In der Spielhalle fühlte ich mich sicher und geschützt“, sagt der Ex-Spieler heute. „Dort gab es Wertschätzung der anderen Spieler, wenn ich gewann. Ich war selbstbewusster.“ 23 Jahre geht das so, Lügen fast von Anfang an, Depressionen kommen später. „Ich habe tausend Mal gesagt, ,Ich höre auf'“, erinnert er sich. Er kann nicht, spielt an bis zu 20 Automaten gleichzeitig. Als er 300?000 Euro Spielschulden hat, will er sich töten. Wegen seiner Tochter betritt er das Bahngleis nicht. Heute geht er unter anderem in Schulen, erzählt aus seinem Leben, warnt.

Martin Epperlein kennt solche Schicksale seit zwei Jahrzehnten. Zu den Suchttherapeuten an der Stuttgarter Evangelischen Gesellschaft (Eva) kommen junge Menschen, Schüler, Rentner, Akademiker, Arbeitslose. Viele Migranten, kaum Frauen. Ihre Herkunft mag verschieden sein, ihr Schuldenstand am Ende ist immer gleich: hoch. Laut Jahrbuch Sucht der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen berichten knapp 8 Prozent der Spieler von Schulden jenseits der 50?000 Euro, bei 11 Prozent sind es bis zu 50?000 Euro. „Die Spieler sind im Zwiespalt. Sie wissen, dass sie aufhören sollten, wollen im Weitermachen aber das Problem lösen“, sagt Epperlein.

Für den Therapeuten ist klar: „Je weniger Anbieter, desto weniger Probleme.“ Je weniger Spielhallen es gibt, desto weniger Spielsüchtige, heißt das. Je erfolgreicher die Glücksspielbranche wurde, desto mehr Süchtige kamen über die Jahre zu ihm.

Das Land Baden-Württemberg will die Spielsucht effektiver bekämpfen und das in den 90er und Nuller-Jahren „deutliche Anwachsen der Zahl von Spielhallen“, begrenzen, heißt es in einer Erklärung des Wirtschaftsministeriums. Die Zahl der Spielhallen, denen „das höchste Suchtpotenzial beigemessen wird“ steige ständig. Kommunen bedauerten, nichts gegen die nachlassende Attraktivität ihrer Innenstädte machen zu können.

Im November 2012 trat der Glücksspielstaatsvertrag in Kraft, der bundesweit einen Mindestabstand von 500 Metern zwischen Spielhallen und zu Kinder- und Jugendeinrichtungen vorsieht. Nach einer Übergangsfrist soll dieser nun vom 1. Juli an unter den 1000 staatlich konzessionierten Spielhallen in Baden-Württemberg gelten. Dagegen läuft die Automatenindustrie Sturm. Es drohe die Schließung von bis zu 80 Prozent der Standorte im Land, bis zu 8000 der 10?000 Arbeitsplätze seien in Gefahr, heißt es etwa in einer Petition. Die Plakataktion „Danke-für-nichts“ und das Aufstellen von 800 Stühlen auf dem Stuttgarter Schillerplatz nahe des Landtags in einer Protestaktion sollen vor dem Stellenabbau warnen. Dirk Fischer vom Automaten-Verband Baden-Württemberg argumentiert, dass die grün-schwarze Koalition die unternehmerische Existenz hunderter Familienunternehmen vernichte.

Das Wirtschaftsministerium weist die Vorwürfe zurück. Die Spielhallenbetreiber hätten seit 2012 Gelegenheit gehabt, sich auf das neue Recht und auf die Abstandsregelungen einzustellen. Eine Schließung von Spielhallen sei gewollt, es könnten etwa 65?Prozent der Betriebe betroffen sein. Von der Möglichkeit im Staatsvertrag festgehaltenen Ausnahmen unter bestimmten Bedingungen – die den einzelnen Bundesländern überlassen wird – wolle das Land ausdrücklich keinen Gebrauch machen. Im Koalitionsvertrag der neuen Landesregierung steht auf Seite 75: „An den bestehenden Regeln zu Mindestabständen für Spielhallen werden wir festhalten.“ Der konsequente Spielerschutz sei wichtig.

Andere Bundesländer sehen dies anders und machen von der Ausnahmemöglichkeit Gebrauch. In Bayern etwa soll die 500-Meter-Abstandsregel nicht gelten, wenn es Mitarbeiterschulungen und Prüfzertifizierungen in den Einrichtungen gibt. Rheinland-Pfalz räumt eine weitere Übergangsphase von sieben Jahren ein. Für den Vorstandssprecher des Dachverbands der Automatenwirtschaft Georg Stecker sind dies „vernünftige Lösungen“. In Baden-Württemberg drohten dagegen Klagen, warnt er. Zudem fielen Teile der Vergnügungssteuereinnahmen weg, die 2019 im Südwesten bei 269 Millionen Euro lagen.

Für den Städtetag darf Geld keine Rolle spielen. Der Verband begrüßt die 500-Meter-Regel. Diese schaffe Rechtssicherheit, sagt Ordnungsdezernent Sebastian Ritter. Gleichzeitig müsse es aber nach „sorgfältiger Abwägung“ Ausnahmen geben. Etwa dann, wenn Kommunen Spielhallen in einem bestimmten Ortsteil wie dem Gewerbegebiet sammeln wollten. Auch der Gemeindetag wünscht sich bei „Vorliegen eines öffentlichen Bedürfnisses oder besonderer örtlicher Verhältnisse“ Ausnahmen.

„Spielhallen mit dem Zollstock zu regulieren, ist im digitalen Zeitalter und angesichts demnächst legaler Online-Glücksspielangebote absurd“, sagt Stecker. Damit spielt der Vorstandssprecher auf den ebenfalls zum Monatsanfang geltenden neuen Glücksspielvertrag im Bund an. Dieser erlaubt Online-Glücksspiel und Livewetten und begrenzt das Einzahlungslimit auf 1000 Euro im Monat. Alle Anbieter müssen sich an die Spielersperrdatei Oasis anschließen. Suchtforscher kritisieren die Legalisierung von Online-Wetten und Online-Glücksspiel als falsches Signal. Der Markt sei nicht kontrollierbar und das monatliche Einzahlungslimit von 1000 Euro deutlich zu hoch gewählt.

Das sieht der Ex-Spieler Brümmer im Prinzip auch so. Der Markt dürfe allerdings nicht komplett ins Internet abgedrängt werden. Dann seien örtliche Spielhallen mit geschultem Personal noch besser.

Offen bleibt auch, welche Spielhallen wann schließen müssen. Möglicherweise werden Lizenzen einfach nicht verlängert: Game over.

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Erstellt:
19.06.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 34sec
zuletzt aktualisiert: 19.06.2021, 06:00 Uhr

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