Versteckt im Vergänglichen

Für Unwissende kaum zu finden, stehen tief im Schönbuch Findlinge von Steinmetz Albert Mayr

Abseits der Waldwege im Schönbuch ruhen in Stein gehauene Kunstwerke von Albert Mayr. Das Kulturamt zeigte am Montag in der Reihe „Kennen Sie Tübingen?“ die Findlinge, die der Vergänglichkeit der Natur preisgegeben sind.

31.08.2016

Von Maik Wilke

Lokalhistoriker Günther Herre erklärt die Bedeutung des Findlings von Steinmetz und Wehrdienstverweigerer Albert Mayr im Schönbuch. Aus dem „Waldsparkässle“, gebildet von zwei offenen Händen, sei noch nie ein Cent verschwunden. Bild: Sommer

Lokalhistoriker Günther Herre erklärt die Bedeutung des Findlings von Steinmetz und Wehrdienstverweigerer Albert Mayr im Schönbuch. Aus dem „Waldsparkässle“, gebildet von zwei offenen Händen, sei noch nie ein Cent verschwunden. Bild: Sommer

Tübingen. Mit kleinen, vorsichtigen Schritten geht’s vom Trampelpfad quer durch Gestrüpp und Geäst. Der konzentrierte Blick der mehr als 100 Frauen und Männer richtet sich aufs unebene Geläuft, die Köpfe heben sich erst etwa 50 Meter mitten im Schönbuch. In einem etwa 1,80 Meter hohen und vier Meter langen Sandstein erhebt sich am linken Ende eine Faust, rechts eine flache Hand. Oben bilden zwei offene Hände eine Schale, in die Wanderer einen kleinen Obolus legen. „Albert Mayr wollte mit diesem Werk sagen, dass man nicht mit der Faust, sondern offen durchs Leben gehen soll“, erklärte Lokalhistoriker Günther Herre am Montag bei der Führung zu Albert Mayrs Skulpturen im Schönbuch.

Mayr, der 1956 in Kempten geboren wurde, arbeitete ab Mitte der 70er Jahre bis 2009 im 600 Meter entfernten Nagelschen Steinbruch. Nach Feierabend, erklärt Herre, habe er sich in den Wald zurückgezogen und die Sandsteine behauen. Die mit Moos bewachsene Skulptur dürfte in den 80er Jahren entstanden sein. „Es war eine Art Meditation für ihn. Hier im Schönbuch konnte er seinem Geist freien Lauf lassen“, sagt Mayr-Kenner Martin Hank. Denn Mayr, absoluter Pazifist, hat sich schon früh für den Buddhismus interessiert. Der Einsatz für ein friedvolles Miteinander zieht sich durch das Leben des Steinmetzes, der für seine Überzeugung sogar sechs Monate im Rottenburger Gefängnis saß, weil er den Wehrdienst verweigerte. 2009 folgte Mayr schließlich einem Guru nach Indien, erst seit vergangenem Jahr lebt der mittlerweile 60-Jährige wieder in Hannover.

So ist es auch nicht verwunderlich, dass sich Mayr für sein zweites, im Wald verstecktes Kunstwerk von Hermann Hesse inspirieren lies. Etwa 20 Meter von der Skulptur mit dem „Waldsparkässle“ steht der zweite Findling. Erhaben, also rausstehend, hat Mayr in diesen mehrere Verse von Hesses bekannter Erzählung „Siddhartha“ gehauen. Der „Stein für Frieden“ zeige die Verbindung zwischen dem Steinmetz und dem Literaten – beide werden, beziehungsweise wurden vom Buddhismus angezogen.

Die Nähe zum Steinbruch und zum Arbeitsplatz sowie die Ruhe des Waldes, in der Mayr ungestört arbeiten konnte, waren aber nicht die einzigen Gründe für den doch ungewöhnlich Standort der Kunstwerke. „Wenn Kunst in der freien Natur entsteht, wird sie bewusst der Vergänglichkeit preis gegeben“, sagt Dagmar Waizenegger vom städtischen Kulturamt. „Die Kunst muss auch nicht für jedes eitle Auge zugänglich sein.“

Zumal Mayr nicht der erste Steinmetz war, der die kleinen Felsen im Schönbuch behauen hat. Schon ein Jahrzehnt vor dem Wehrdienstverweigerer hat Anton Bauer seinen „ruhenden Wanderer“ in Sandstein gemeißelt. Beide Beine leicht angewinkelt und den Kopf auf einen Arm gelehnt, sitzt der Mann nur wenige Meter von Mayrs Skulptur entfernt in einem Sandstein. „Bauer hat nach langen Arbeitstagen sogar im Wald übernachtet“, sagt Herre. Allerdings verstarb der gebürtige Wendelsheimer, der ebenfalls im Nagelschen Steinbruch tätig war, mit nur 37 Jahren an Silikose, einer Steinstaubkrankheit, die durch das Einatmen von Quarz auftritt.

Während die Findlinge fernab von Trampelpfaden ihre Ruhe im Wald genießen, wird sich ihr Erschaffer bald wieder in Tübingen zeigen: Wenn am 23. September der Gedenkstein für den Unbekannten Kriegsdienstverweigerer nach langer Abstinenz (wir berichteten ausführlich in der Rottenburger Post) beim Platz des Unbekannten Deserteurs in der Tübinger Südstadt aufgestellt wird, begleitet auch Albert Mayr dieses Ereignis. Den Gedenkstein hatte Mayr 1985 gefertigt, als Geschenk für die Dietrich-Bonhoeffer-Kirche auf Waldhäuser Ost. Allerdings kam das Geschenk nicht gut an – der Kirchengemeinderat beseitigte den 250 Kilogramm schweren Stein nach heftigen Streitereien. Im französischen Viertel wird er nun wieder exponierter zu sehen sein, als die Findlinge im Schönbuch.

Zum Dossier: Kennen Sie Tübingen?

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Erstellt:
31.08.2016, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 52sec
zuletzt aktualisiert: 31.08.2016, 01:00 Uhr

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