Ökologie

Früheres Aus für Kohle und Verbrenner

Die Bundesregierung will ein neues Klimaschutzgesetz beschließen. Die Folgen, die sich dadurch für Wirtschaft und Verbraucher ergeben, werden immens sein.

12.05.2021

Von IGOR STEINLE

Drei Mal so viel Wind- und Sonnenergie, 14 Millionen Elektroautos: Die neuen Klimaziele der Bundesregierung werden das Land nachhaltig verändern. Foto: ©lassedesignen/shutterstock.com

Drei Mal so viel Wind- und Sonnenergie, 14 Millionen Elektroautos: Die neuen Klimaziele der Bundesregierung werden das Land nachhaltig verändern. Foto: ©lassedesignen/shutterstock.com

Berlin. Dass Wunder geschehen, bewiesen die vergangenen zwei Wochen in Berlin. Der Beschluss des Verfassungsgerichts, der die Bundesregierung zwingt, mehr gegen die Erderwärmung zu tun, löste einen regelrechten Turbo-Klimawandel in der Union aus. Waren CDU und CSU in der klimapolitischen Rallye der großen Koalition bisher fürs Bremspedal zuständig, überschlagen sie sich seit Neuestem mit Ideen, wie sich das Karlsruher Diktum realisieren ließe. Symbolisch für den Sinneswandel steht Peter Altmaier. Interpretierte der CDU-Politiker seine Rolle als Energieminister bisher als Endgegner sozialdemokratischer Ökostrom-Forderungen, inszeniert er sich nun als Klimavorkämpfer erster Stunde, der „schon im letzten September genau das vorgeschlagen“ habe, so Altmaier, was das Verfassungsgericht jetzt beschlossen hat.

Die Sozialdemokraten werden bei diesen Einlassungen regelrecht emotional. Von „bigott“ über „pfff“ bis zu „Satire“ reichen die Reaktionen auf Altmaiers persönliches Tauwetter. In den Verhandlungen über ein neues Klimaschutzgesetz konnte man diesen Groll allerdings zur Seite schieben. In rekordverdächtiger Zeit hat man sich offenbar bereits am Montag darauf einigen können. Eigentlich hatte Karlsruhe dafür Zeit bis Ende 2022 gegeben. Diese Flanke wollte man den Grünen im Wahlkampf allerdings nicht anbieten, so dass das Kabinett wohl schon diesen Mittwoch den Entwurf von Umweltministerin Svenja Schulze (SPD) verabschieden wird.

Und der hat es in sich. Schon 2045, nicht erst 2050 soll Deutschland klimaneutral werden. Gemeinsam mit dem ebenfalls ehrgeizigen Großbritannien würde man sich damit an die Klima-Speerspitze der größeren Volkswirtschaften stellen. Aber auch für die Zeit davor soll es neue, ehrgeizigere Ziele geben. Bis 2030 sollen 65 Prozent weniger CO2 ausgestoßen werden als 1990. Zehn Prozent weniger als ursprünglich geplant. Diese Verschärfung allerdings hat mehr mit Brüssel als mit Karlsruhe zu tun, leitet sie sich ja aus dem unionsweiten Klimaziel ab, das sich die EU unlängst gegeben hat.

Bei diesen Zahlen, merken Kritiker allerdings zu Recht an, handelt es sich bisher nur um Wunschvorstellungen. Darüber, wie sie Realität werden sollen, wird die große Koalition sich bis zur Bundestagswahl nicht mehr einigen können. Wer wissen will warum, muss sich eine aktuelle Studie der Umwelt-Denkfabriken „Agora Energiewende“, ihrer Schwester „Agora Verkehrswende“ und der „Stiftung Klimaneutralität“ anschauen. Die haben zufälligerweise drei Tage vor dem Beschluss der Verfassungsrichter durchgerechnet, welche Anstrengungen für eine Klimaneutralität bis 2045 nötig sein würden.

So müssen im Gebäudebereich spätestens ab 2030 jährlich fast doppelt so viele Häuser saniert werden wie momentan. In sechs Millionen Häuser müssen bis dahin Wärmepumpen verbaut werden, sechsmal mehr als jetzt. Im Verkehr müssten bis 2030 rund 14 Millionen Elektroautos unterwegs sein, eine Verzehnfachung des aktuellen Werts. Ab 2032 dürften Autos mit Verbrennungsmotor überhaupt nicht mehr zugelassen werden, so die Autoren. Und die Industrie soll durch den Einsatz von Wasserstoff schon 2040 weitgehend klimaneutral sein.

Kann das gelingen? „Die Antwort ist ein klares Ja“, sagt Rainer Baake, Chef der Stiftung Klimaneutralität. Baake ist kein Unbekannter in der Klimapolitik, jahrelang war er Staatssekretär im Umwelt- und im Wirtschaftsministerium. Der Schlüssel zum Erreichen dieser Ziele ist, das betont er vehement, ein massiver Ausbau der erneuerbaren Energien. Denn ohne ausreichend Ökostrom sind E-Autos und Wärmepumpen nur wenig sinnvoll. Damit die Ökostromversorgung mit der zunehmenden Elektrifizierung Schritt hält, muss der Ausbau der Erneuerbaren massiv forciert werden: Allein an Land sind 1200 neue Windräder pro Jahr nötig – drei Mal so viele wie 2020 errichtet wurden. Auch die Leistung der Solarenergie muss sich bis 2030 verdreifachen.

Vor allem aber lässt sich das Ausstiegsdatum für die Kohleverstromung wohl nicht halten. „Wer glaubt, Kohlekraftwerke könnten noch bis 2038 laufen, macht sich Illusionen“, so Baake am Dienstag. Für die Kohleregionen, die sich auf einen geregelten Strukturwandel verlassen, würde das einen herben Schlag bedeuten. Die Stiftung schlägt vor, einen Mindestpreis von 50 Euro die Tonne für den CO2-Ausstoß im Energiebereich festzulegen, der jährlich um drei Euro steigt. Mit diesem, so ist sich Baake sicher, wäre die Kohleverstromung bereits 2030 erledigt. In weiten Teilen von SPD und CDU will man den Kumpeln aber einen solchen Schlag nicht zumuten, erst Recht nicht im Wahlkampf (die CSU schon). Übernehmen könnte diesen Todesstoß allerdings die Realität, nämlich jene des EU-Emissionshandels. In diesem kostet der Ausstoß einer Tonne CO2 schon jetzt rund 50 Euro. Dass dieser Wert noch mal sinken wird, halten Experten für unwahrscheinlich. Erwartet wird das Gegenteil.

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Erstellt:
12.05.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 15sec
zuletzt aktualisiert: 12.05.2021, 06:00 Uhr

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