Kommentar

Fremde auf dem Weihnachtsmarkt

Das ist mal eine Ansage: Wegen voraussichtlicher Überfüllung geschlossen. Ein Schreiben mit dieser Art von Weihnachtsmarkt-Botschaft geht in Tübingen um.

09.12.2015

Von Ulla Steuernagel

Mit tiefem Bedauern teilt darin Ordnungsamtsleiter Rainer Kaltenmark den Tübinger Bürgerinnen und Bürgern mit, dass der Markt nicht, wie geplant, vom 11. bis 13. Dezember stattfinden kann. Eine schwere Entscheidung sei das, aber bei täglich 10 000 Besuchern könne die Stadt nicht die nötige Infrastruktur bieten. Auch sei die Sicherheit der Bürger unter diesen Umständen nicht zu gewährleisten. Man müsste also „die Zugangszahlen begrenzen“, das sei aber im Moment schlichtweg unmöglich.

Die eigentliche Weihnachtsmarktbotschaft kommt aber erst anschließend: „Durch die Flut an Touristen aus dem gesamten Tübinger Umland und darüber hinaus fühlten sich viele Tübingerinnen und Tübinger in der Vergangenheit nicht mehr sicher und sogar fremd auf dem eigenen Weihnachtsmarkt.“ Fremde Dörfler auf dem heimischen Weihnachtsmarkt, sieht so ein Schreckensszenario der Tübinger aus? Wollen die unbekannten Verfasser des Briefes also allen eine Lektion erteilen, indem sie Fremdenhass auf schlichte Weise umkehren und zur Angst vor Einheimischen ummünzen?

Für die Zukunft denke man über „eine festgelegte Höchstgrenze an auswärtigen Besucherinnen und Besuchern“ nach, heißt es weiter. Das Schreiben gipfelt in einer Entschuldigung wegen der „unverhältnismäßige(n) Zahl“ auswärtiger Besucher in den letzten Jahren und verspricht „konsequentes Durchgreifen“ im nächsten Jahr.

Eine genauere Lektüre lässt keinen Zweifel daran, dass der Brief nicht echt ist. Doch wer liest schon so genau, was da an Post in den Briefkasten flattert? Also ist es nicht verwunderlich, dass sich Leute foppen lassen und besorgt bei der Stadt nachfragen.

Was aber soll dieses Schreiben? Wogegen richtet es sich: gegen den Weihnachtsmarkt; gegen die Provinz, die Ausgang hat und in Tübingen einfällt; gegen die Stadtverwaltung, insbesondere den Oberbürgermeister Boris Palmer, der sich mit seiner Forderung nach einer Begrenzung der Flüchtlingszahlen weit aus dem Rathausfenster lehnte? Die zutreffendste Lesart ist wohl die Kombination aus OB- und Weihnachtsmarktkritik. Damit ist der Kreis der Verdächtigen nicht gerade klein. Denn Palmer und der Weihnachtsmarkt haben eine Gemeinsamkeit, beide polarisieren: Man ist entweder für ihn oder gegen ihn.

Warum dann nicht der Name Palmer als Unterzeichner des Briefes auftaucht? Vermutlich weil der Brief, der übrigens sorgfältig durchgegendert ist, also immer konsequent von „Bürgerinnen und Bürgern“ spricht, doch eher aus einer Bier- oder Anti-Glühweinlaune entstanden ist. Da hat jemand irgendein amtliches Schreiben aus der Schublade gezogen und einen anderen Text drüberkopiert.

Was lernen wir daraus? Man sollte nicht alles glauben, was in amtlichen Schreiben steht oder in Schreiben, die amtlich aussehen. Man kann daraus aber auch lernen, wie kinderleicht so ein Fälscherjob ist, wenn der Adressat nicht auf ein Fake gefasst ist. Zu lernen ist aber auch, dass nicht alles Satire ist, was als solche daherkommt. Denn man kann Tübingern gewiss vieles vorwerfen, aber für besondere Fremdenfeindlichkeit steht diese Stadt sicher nicht. Die Dementi von Stadtverwaltung und HGV sind also unnötig.