Festival ohne Publikum

Leitartikel zur tristesten Berlinale der Geschichte

Stell Dir vor, es ist Berlinale, und keiner geht hin. So wird das größte deutsche Filmfestival ab heute aussehen.

01.03.2021

Von Christina Tilmann

Die Jury sitzt allein im großen Kino, sichtet 15 Wettbewerbsfilme, gelegentlich kommt Festivaldirektor Carlo Chatrian vorbei und bringt Kaffee, und am Freitag gehen Goldene und Silberne Bären an Werke, die noch kein Publikum gesehen hat.

Im Fall von Dominik Grafs Kästner-Verfilmung „Fabian“, dem deutschen Film im Wettbewerb, der mit der größten Spannung erwartet wird, werden noch nicht einmal akkreditierte Journalisten den Film gesehen haben – der Verleih hat ihn nicht zur Sichtung freigegeben.

Worüber sollen Filmkritiker schreiben, wenn keine Stars über den Roten Teppich laufen, kein vollbesetzter Berlinale-Palast am Ende des Films jubelt, klatscht, weint oder buht, und kein Regisseur auf der Pressekonferenz erklärt, was er sich bei seinem Werk gedacht hat? Wie will die Jury entscheiden, wenn sie nur auf ihre eigene Wahrnehmung zurückgeworfen ist und keinen Realitätscheck im Kino machen kann? Und wer ist daran interessiert, über Filme zu lesen, selbst wenn sie den Goldenen Bären gewinnen, wenn er bis Juni keine Chance haben wird, sie real auf der Leinwand zu sehen?

Der Grund für die Zweiteilung der Berlinale in ein digitales Marktevent im März und ein Publikumsfestival im Juni ist bekannt, ein Real-Festival hätte sich unter den derzeitigen Bedingungen in Zeiten der Pandemie tatsächlich verboten. Und natürlich ist die Intention der Festivalleitung, die Kinos zu stärken und das Publikum nicht mit einsamen Online-Sichtungen abzuspeisen, sondern ihm das Gemeinschaftsgefühl vor der Leinwand zu ermöglichen, sehr lobenswert.

Es hätte auch keiner protestiert, wenn der Wettbewerb im Juni beim Publikumsevent stattgefunden hätte, mit allem, was dazugehört, Hoffnung, Bangen, Spannung und persönlichen Favoriten, Stars und Regisseure glücksstammelnd-überrascht bei der Preisverleihung. Auch wenn die Marktdeals dann schon längst abgeschlossen sind, ein Festival braucht die Öffentlichkeit, braucht den Buzz, den Glamour, den Kampf um die Karten. Warum muss es jetzt im März eine Wettbewerb-Fakeveranstaltung geben?

Weil natürlich sich jeder Film gern mit einem Gold-Bären als Startbonus schmückt. Und weil die Festivalleitung alles tun wollte, um den Filmen den Start in die Kinos zu erleichtern – nicht ausgeschlossen, dass das schon vor Juni wieder möglich sein wird und der eine oder andere Bärengewinner schnell seinen Weg zum Publikum findet.

Die Kinos, die am Sonntagabend an vielen Orten in Deutschland rot angestrahlt wurden, um auf ihre Notlage und das Bedürfnis nach schneller Öffnung hinzuweisen, werden bestimmt gern zugreifen. Nur: Warum muss es dann noch das zusätzliche Sommerevent geben? So verlieren nun beide: Das Publikum und das Festival. Und wir Filmkritiker machen uns eine einsame Woche vor dem Computer und träumen vom Festivalfeeling – wie alle anderen auch.

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Erstellt:
01.03.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 21sec
zuletzt aktualisiert: 01.03.2021, 06:00 Uhr

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