Tübingen · Streik

Fast 1800 Menschen aus dem öffentlichen Dienst kämpfen für bessere Löhne

In Tübingen trafen sich Beschäftigte des öffentlichen Dienstes zum dritten Warnstreik der Gewerkschaft Verdi. Warum gehen sie auf die Straße?

21.03.2023

Von Mara Lucas

Verdi-Streik am Dienstag in Tübingen. Bild: Ulrich Metz

Verdi-Streik am Dienstag in Tübingen. Bild: Ulrich Metz

Wer am Dienstag gegen halb elf die Karlstraße in Tübingen entlang gehen wollte, musste sich durch Gruppen von Wartenden in gelben Warnwesten mit Verdi-Logo schlängeln. Sie kamen zum Warnstreik. Da die Demo erst um 11 Uhr begann, lauschten sie den Forderungen der Rednerinnen und Redner oder diskutierten miteinander. Einige saßen in ihren Westen in einem Café, eine Gruppe Jugendlicher, einer davon mit Ordnerbinde, tanzten zu einem Song von Jason Derulo, der aus einer Musikbox inmitten von Bierflaschen schallte.

Sobald der Zug aufbrach, schwoll der Lärm an, dank Trillerpfeifen und Klatschpappen. Viele Demonstrierende trugen Verdi-Schilder, einige hatten eigene mitgebracht: „Ein schöneres Schild kann ich mir nicht leisten“ und „Stark genug, Erzieherin zu sein, verrückt genug, die Arbeit zu leben.“

1775 Menschen folgten dem Aufruf der Gewerkschaft Verdi zum Streik, so die Zählung von Benjamin Stein, dem Bezirksvorsitzenden von Verdi. Die Polizei ging von „etwas über 1500 Teilnehmern“ aus. Vor der dritten und letzten Verhandlungsrunde will Verdi den Druck auf die Arbeitgeber erhöhen. Die Gewerkschaft fordert mehr Geld für Beschäftigte des öffentlichen Dienstes: Auszubildende sollen 200 Euro mehr Gehalt bekommen. Für die anderen Beschäftigten gibt es zwei Forderungen: Prinzipiell soll jeder seinen Tabellenlohn um 10.5 Prozent erhöht bekommen. Wer durch diesen Aufschlag unter 500 Euro mehr im Monat bekäme, soll mindestens 500 Euro als pauschalen, monatlichen Aufschlag erhalten. Stein warb dafür, in die Gewerkschaft einzutreten und rief dazu auf, zum Streik am Mittwoch, 22. März, in Reutlingen zu kommen und alle mitzubringen, „die man sanft und sympathisch mitziehen kann“ (siehe Infokasten). Dort will Verdi die Zahl von 2000 Streikenden erreichen.

Martin Gross, Verdi-Landesbezirksleiter, verkündete bei der Kundgebung: „Diese Tarifrunde wird in die Geschichte eingehen, seit 70 Jahren war die Inflation nicht mehr so hoch.“ Er verdeutlichte an einer Spätzletüte, wie die Preise steigen. Deswegen seien so viele auf der Straße, 9000 in Baden-Württemberg, darunter 1005 Azubis. Er begrüßte „Kollegen, die das noch nie gemacht haben, die vorher unruhig geschlafen haben“. Dann forderte er neben den Lohnerhöhungen auch die Beibehaltung des Rechts auf Altersteilzeit. Er kritisierte die Arbeitgeber, die das Streikrecht einschränken wollten und ihre Vorschläge im Tarifstreit. „Das Angebot der Arbeitgeber ist sozial blind.“ Deren Angebot sei, Arbeitnehmern bis 2027 zwei Einmalzahlungen von 1000 und 1300 Euro als Inflationsausgleich zukommen zu lassen und in zwei Schritten die Löhne zu erhöhen. Insgesamt um 5 Prozent, 3 Prozent im ersten Jahr und weitere 2 Prozent 2027. Bisher sehe er keinen Landeplatz für ein Ergebnis nächste Woche. Wenn Arbeitgeber und Arbeitnehmer sich nicht einigen könnten, dächten Verdi über eine Urabstimmung und im Zweifel über unbefristete Erzwingungsstreiks nach. Am Ende bat Gross die Menge um Solidarität mit den Beschäftigten von Galeria Kaufhof, diese könnten Streikende am Mittwoch mit passenden Schildern zeigen.

Der dritte Redner war Ulrich Bühler von der Tübinger Sparkasse. Er kritisierte, dass die Angestellten den Rotstift verkraften müssten, obwohl es der Sparkasse gut gehe.

Einer der jüngeren Streikenden war der dreijährige Reik Erik Müller aus Mössingen. Er streike solidarisch für seine Erzieherinnen, denen das nicht erlaubt worden sei, erzählt sein Vater Felix Müller. Er ist Heilerziehungspfleger und bekomme als Betriebsrat jeden Tag mit, was Fachkräftemangel bedeute. „Die wichtigste Forderung, das Einzige, was Leute in den Beruf locken würde, ist Geld, so traurig das ist. Es braucht mehr Lohn.“ Einige Erzieherinnen und Erzieher konnten kommen: „Bei mir ist es so, dass ich über 40 Jahre in meinem Beruf arbeite und das, was nun entstanden ist, das kann ich nicht ertragen“, beschrieb Andrea Niesner, Leiterin einer Metzinger Kita. Die 61-Jährige betonte, dass sie nicht für Metzingen streike, sondern um den Beruf in das richtige Licht zu rücken. Sie wünschte sich, dass die Umstände wieder stimmen, damit die Erzieher Spaß haben an ihrem Beruf. Dass sie wieder das Gefühl haben, mit Kindern und Eltern zusammenzuarbeiten und nicht nur Betreuung auf mittlerem Level bieten müssten. Geld sei ein Teil des Problems, die fehlende Sichtbarkeit das zweite. Ihr Kollege Patrick Hollmann hat eine ähnliche Motivation. „Mein Gedanke ist, in die Zukunft zu blicken. Das Berufsfeld pädagogische Fachkraft attraktiver zu machen, so dass die Berufsanfänger gerne dranbleiben.“ Auch Sabine Wiechell, die als Verdi-Mitglied Westen und Ohropax ausgab, leitet eine Kita. „Dieser Streik bedeutet ein Kampf für die Wertschätzung des Berufs, ein Kampf für Nachwuchskräfte.“ Doch sie könne auch die Kollegen verstehen, die arbeiten. „Ich streike für sie mit.“

Stellvertretende Bundesvorsitzende in Reutlingen

Am Mittwoch, 22. März, wird in Reutlingen gestreikt. Rednerin bei der Kundgebung im Bürgerpark ist Christine Behle, die stellvertretende Verdi-Bundesvorsitzende. Verdi ruft alle Beschäftigen der Region auf, am Mittwoch nach Reutlingen zu kommen.

8.30 Uhr: Streikgelderfassung Bürgerpark

11 Uhr: Demo ab Bürgerpark

12.15 Uhr: Kundgebung im Bürgerparke mit Behle

Am Donnerstag wird in Esslingen gestreikt.

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Erstellt:
21.03.2023, 15:43 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 47sec
zuletzt aktualisiert: 21.03.2023, 15:43 Uhr

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